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der Kooperation mit der Gestapo als einziger “rertender” Ausweg mit dem Verzicht auf eine weitere Verfolgung präsentiert worden. Spektakulärster Fall war der führende Kommunist Karl Zwifelhofer, der bereits zum Tod verurteilt war und dessen Hinrichtung immer wieder aufgeschoben wurde, um ihn zu “Aussagen” zu bewegen. Spitzeldienste wurden in unterschiedlicher Höhe entlohnt. Da die V-Leute als vermeintliche Gesinnungsgenossen auch das Vertrauen der jeweiligen Widerstandsgruppen besaßen, wurden sie auch als Agent Provocateurs eingesetzt, die zu Aktivitäten anstachelten, immer tiefer in die Organisationen eindrangen und ein beständig größer werdendes Verbindungsnetz erschließen konnten. Oft wurde lang zugewartet, ehe mit plötzlich einsetzenden Massenverhaftungen die Gruppen aufgerollt und zerstört wurden. Danach mussten die V-Leute meistens auf anderen Schauplätzen weiterarbeiten, um nicht Verdacht zu erregen. Auffallend ist die Unverfrorenheit, mit der sie in der Regel ihre Tätigkeit fortsetzten. Den höchsten Blutzoll hatten die Kommunisten zu entrichten. Kurt Koppel, ein früherer Aktivist des Kommunistischen Jugendverbandes, lieferte 1940/41 insgesamt 800 Widerstandskämpfer der KPÖ den Nazis ans Messer. Koppel zählte auch zu jenen Tätern, von denen sich nach 1945 jede Spur verloren hat. Die Perfidie sollte aber noch gesteigert werden: Die Arbeit des neu eingesetzten Zentralkomitees der illegalen KPÖ wurde ab April 1942 von Gestapospitzeln gelenkt; auf diese Art konnten bis Herbst 1943 allein 1.500 Personen verhaftet werden. Unter den Revolutionären Sozialisten war es vor allem der frühere Redakteur der ArbeiterZeitung und prominente RS-Funktionär Johann Pav, der sein Unwesen trieb. Sein bekanntestes Opfer war Käthe Leichter, die durch seinen Verrat die rettende Ausreise verpasste und in der Folge ermordet wurde. Und die legitimistischen und katholisch-konservativen Widerstandsgruppen um Karl Roman Scholz, Jakob Kastelic und Karl Lederer sind vom Burgschauspieler Otto Hartmann unterwandert und von der Gestapo zerstört worden. Einige Hundert Angehörige wurden verhaftet, viele davon landeten unter dem Fallbeil. Schafranck steuert auch interessante Regionalstudien bei. So bezahlten die Tiroler Verbindungsleute einer deutschen KPD-Gruppe ihre Kontakte mit dem Leben und besonders erschütternde Beispiele werden anhand einiger Gruppen in Niederösterreich gezeigt, wo bis April 1945 bespitzelt und exekutiert wurde. Eine spezielle Abart von Täuschungsmanövern waren die “Funkspiele”. Dabei wurden im vermeintlichen Namen von abgesprungenen Fallschirmagenten, die sich bereits in den Händen der Nazis befanden, Botschaften an alliierte Stellen abgesetzt. Dafür war der SS-Mann Johann Sanitzer zuständig, der zu den brutalsten und skrupellosesten Mitarbeitern der Wiener Gestapo zählte. Das Buch wird durch einen biographischen Teil ergänzt, der die Lebensläufe der leitenden Gestapobeamten und jener V-Leute enthält, die am meisten Unheil anrichteten. Dabei ist „Es gibt keine gerechte Gesellschaftsordnung, weil der Mensch, sucht er die Gerechtigkeit mit Recht jede Gesellschaft als ungerecht [...] empfinden muss“, erkannte einst Friedrich Dürrenmatt. Die Autorin, Lydia Mischkulnig, stellt diesen Gedanken ihrem aktuellen Werk „Die Richterin“ voran. Als Motiv des Romans wird die „klare Sicht“ hervorgehoben, die die Richterin symbolisch durch ihre Augentropfen zu erlangen versucht. Doch während sie physisch mit ihrer Augenerkrankung zu kämpfen hat, wird ihr Privatleben immer undurchsichtiger. Der Arbeitsplatz der Richterin Gabrielle ist das Bundesverwaltungsgericht in Wien. Hier entscheidet sie über die Anerkennung von Asylsuchenden. Ihrem Urteilen sind durch das Gesetz Grenzen gesetzt. Entscheidungen bei Gericht fußen aber nicht allein auf rechtlich relevanten Fakten, die Waagschale der Justitia umspinnen auch unsichtbare Netze psychischer Befangenheit. Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Ein Asyl beantragender junger Mann, dessen Beweggründe für ein Asyl genügen, wartet vor Gericht auf seinen Bescheid. Ausgangssituation 1: Vor ihm wurde bereits den letzten zwanzig Anwärtern Asyl gewährt. Ausgangssituation 2: Vor ihm wurde gerade jemand abgewiesen. Was glauben Sie, in welchem Fall der junge Mann bessere Chancen hat? Erschwerend kommt noch hinzu, dass der Homo Sapiens ein begnadeter Liigner ist. Stimmt also die Geschichte des Flüchtlings tatsächlich oder will er sich Asyl erschleichen? Kann man der sprachlosen Asylsuchenden trauen, deren Mann im Gerichtssaal pausenlos dazwischenruft? Wurde jemand tatsächlich entführt oder fühlte er sich bedroht, entführt zu werden? Ist es gerecht, dass dieselbe Person, die unter „normalen“ Umständen das Land verlassen müsste, aufgrund eines Selbstmordversuches bleiben darf? Könnte dieser nicht auch inszeniert gewesen sein? Lydia Mischkulnig führt uns durch die Gedanken der Richterin tief in die realen Missstände und Problematiken des österreichischen Rechtssystems und wirft Fragen auf, die einen nachdenklich machen und die enorme Verantwortung auf Gabrielles Schultern spüren lassen. Während man sich durch die vereinnahmende Gedankenwelt der Protagonistin liest, hält man auch einmal irritiert inne und versucht, Zeit und Ort der Handlung zu erkennen. Der Roman besticht durch unverfrorene Realitätsnähe. Mischkulnig konfrontiert die Leser mit bemerkenswert, dass deren Tätigkeit — so man ihrer habhaft wurde - nach der Befreiung vom Nationalsozialismus in der Regel mit Volksgetichtsverfahren geahndet wurde, aber in den meisten Fällen die Haftdauer reduziert wurde, sodass sich in den 1950er Jahren alle bereits wieder auf freiem Fuß befanden. Zu dieser Zeit wurden auch keine neuen Verfahren mehr eröffnet. Weiters fällt auf, dass eine Inhaftierung von Ausgelieferten in Jugoslawien und in der Sowjetunion keineswegs — wie man vielleicht annehmen wiirde — das Todesurteil bedeutete; auch dort sind die Tater relativ glimpflich davongekommen. Der Umgang der Nachkriegsgesellschaft mit diesem dunklen Kapitel wire eine eigene Untersuchung wert. Zwar zählte das Wissen um die Einschleusung von Spitzeln in Widerstandsgruppen zur zeitgeschichtlichen Allgemeinbildung, aber es blieb doch eher an der Oberfläche haften und eine in die Tiefe gehende historische Aufarbeitung, die auch Strukturen und Mechanismen seziert, ist ausgeblieben. Vielleicht war es auch eine gewisse Scham bei überlebenden Widerstandskämpfern, solch abgrundtiefem Verrat zum Opfer gefallen zu sein, die hier bremsend gewirkt hat. Umso größer ist das Verdienst von Hans Schafranek zu bewerten, mit dieser grundlegenden Studie eine Pionierarbeit vorgelegt zu haben. Heimo Gruber Hans Schafranek: Widerstand und Verrat. Gestapospitzel im antifaschistischen Untergrund 19381945. Wien: Czernin, 2. Aufl. 2020 (2017. 503 S. € 29,90 Gegensätzen, Unebenheiten und harten Kanten des Lebens und zeigt doch einfühlsam persönliche Empfindsamkeit, die sie der Kälte und Härte der Gesellschaft gegenüberstellt. Die Protagonistin des Romans, die Richterin Gabrielle, steht fiir das Streben nach Ordnung und Sicherheit in einer Welt, in der die Realität ein dehnbarer Begriff ist. Denn, wie in dem Roman eindrucksvoll dargestellt, besteht ein großer Teil des menschlichen Daseins aus der eigenen Wahrnehmung gegenüber Vorgängen von außerhalb. Wenn sich nun die sogenannte Realität maßgeblich aus den subjektiven Empfindungen, Gedanken und individuellen Voraussetzungen des Einzelnen ergibt, wie sollen dann aus diesen Millionen Realitätsfragmenten Allgemeingültigkeiten, wie Gesetze, fehlerfrei abgeleitet werden? Anders gefragt: existiert überhaupt etwas, das allgemeine Gültigkeit besitzt? Charakteristisch für den Roman sind Kontraste — beginnend mit dem mehrmaligen Vergleich zwischen Wien und der afghanischen Hauptstadt Kabul. Personifiziert wird dies durch Mazuma, eine befreundete Ärztin mit afghanischen Wurzeln, die sich, der Familie wegen, alle Jahre wieder in die lebensbedrohliche Zone wagt. Dort ansässig, wie Gabrielle im Laufe des Romans herausfindet, ist ihr Bruder Karl, dessen Dezember 2020 63