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Drogensucht seinen Mitmenschen bereits viel Leid zugefügt hat. Gabrielles emotionale Distanz zum verkommenen Bruder rührt aus dieser Vergangenheit. Immerhin hat er nicht nur ihre Hochzeit, sondern auch die Familiengründung auf dem Gewissen. Die Zweifel an seiner Vertrauenswürdigkeit reichen bei Gabrielle sogar so weit, dass sie ihn als Verdächtigen für den vermeintlichen Mord an ihrem Vater in Betracht zieht. Der Vater liefert das nächste Kontrastbild zu seiner Tochter, für die Gerechtigkeit das wertvollste Gut ist. Denn während er einer Inhaftierung für seine Machenschaften im Waffenhandel entging, hatten Geschäftspartner weniger Glück. Ob seine Verbeleiben in Freiheit gerecht war, wird von der Tochter in Frage gestellt. Während die Familie geringen Wert aufgeltendes Recht und Unrecht legt, verschafft Gabrielle sich ein vermeintlich sicheres, berufliches Umfeld, in dem für sie die Verfassung und das Gesetz die höchste Allgemeingültigkeit haben. Doch kommt Gabrielles kritischer Geist nicht umhin, auch diese anzuzweifeln. Tötung im Rahmen des Gesetzes, wie die des Asylanten Omofuma 1999 im Flugzeug von Wien nach Sofia, ist nur ein Beispiel des rechtlichen Missstands. 2020 bleiben die Zweifel nicht aus: Ist es beispielsweise gerecht, einem rechtsradikalen Dichter Asyl zu gewähren, weil er als suizidgefährdet eingestuft wird? Gekonnte Formulierungen wie „Gabrielle nahm das Telefon und wählte zwischen Whiskey und Rum“, lassen hier und dort ein Lächeln über das Gesicht angespannter Leserinnen und Leser huschen und für einen kurzen Moment von der selten amüsanten Realität absehen. Wenig originell wirkt hingegen die Phrase: „Sie ging mit sich selbst ins Gericht“, da sie zwecks Offensichtlichkeit beinahe lächerlich klingt. Mischkulnig bricht in ihrem Roman mit stereotypen Rollenbildern. Während der Vater Gabrielle aufs Gymnasium und später die Universität schickte, schaffte der Sohn keinen Schulabschluss. Während Gabrielle als Richterin einen gesellschaftlich hoch angesehenen und vor allem gut bezahlten Job ausübt, ist ihr Mann ein Geringverdiener und nach seiner Frühpensionierung ihr Haushälter. Hinzu kommt seine unklare Geschlechteridentität, für die versteckte Hinweise wie „Während Joe eine Flasche Champagner hervorzauberte und eine regenbogenfarbige Seidenmasche öffnete“ ein Indiz sein könnten. Eindeutig erkennbar ist sie anhand seines heimlichen Faibles für das Tragen von Gabrielles Kleidern. Als seine Frau ihn dabei entdeckt, zieht sie nicht nur zwischenzeitig aus, sondern verfällt in ihrer Verzweiflung zum ersten Mal in ihrer Karriere vor Gericht in Rage. Versuche von beiden Seiten ein klärendes Gespräch zu führen, schlagen wiederholt fehl. Die Kommunikation der Ehepartner ist genauso verkümmert wie ihre Beziehung. Der Druck steigt weiter, als die Richterin aufgrund einer von ihr gefällten Entscheidung bedroht wird. Mit Fortschreiten des Romans spitzt sich Gabrielles psychische Lage immer mehr zu, was die Autorin durch emotionale Selbstrechtfertigungs-Ausbrüche, Unnahbarkeit und steigende Angst ausdrückt. Mit ihrer Hauptfigur positioniert sich Mischkulnig politisch sehr deutlich. Gabrielles Leben zeichnet sich durch ihre feministische, tolerante und umweltbewusste Haltung aus. Nach dem Brand des Fliichtlingslagers Moria im vergangenen September soll besonders ein Aussage der Richterin nicht ungehört bleiben: „Die wahre Perversion ist die politische Haltung der christlich-sozialen Partei gegenüber Menschen in Not. An dieser Stelle möchte ich einen Gedanken mitgeben: Was haben wir für unser Glück, hier zu leben, geleistet? Lydia Mischkulnigs sprachliches Feingefühl, kombiniert mit hochaktuellen gesellschaftspolitischen Fragen bringt vermeintliche Sicherheiten ins Wanken und hinterlässt Leserinnen und Leser mit einem Gefühl der Unvollständigkeit. Hautnah erlebt man die Emotionen der Richterin mit— Ratlosigkeit, Besorgnis, Zweifel und Unsicherheit. Dennoch oder gerade deshalb können die Leserin und der Leser Gabrielles Situation so gut nachempfinden. Auch in der Realität bleibt vieles ungelöst, selten gibt es klare Antworten auf die kleinen und großen Probleme, die uns zu schaffen machen. Nach der Lektüre von Lydia Mischkulnigs Roman, fragt man sich einmal mehr: Was ist wahr, richtig, gerechtfertigt? Nach welchen Kriterien beurteile ich? Und: Woher kommen diese Kriterien? Lara Marie Schabauer Lydia Mischkulnig: Die Richterin, Innsbruck-Wien: Haymon Verlag 2020, 289 S. € 22,90 Heinrich Stiehler ist als Herausgeber der deutschen Edition der Werke Panait Istratis und als Verfasser zahlreicher literaturwissenschaftlicher Studien, etwa zu sog. rumäniendeutschen Schriftstellerinnen jedenfalls in Fachkreisen bestens bekannt. Auch wissen seine ehemaligen Kolleginnen und Studenten — ob in Frankfurt am Main oder lasi, Paris, Klagenfurt oder an der Universitat Wien, wo er bis zu seiner Emeritierung vor wenigen Jahren lehrte — um die Vorliebe Stiehlers fiir schwierige Themen. Seine jüngste Monographie, "Nacht". Die rumänische Schoah in Geschichte und Literatur bestätigt diese Neigung. Es versteht sich, dass die Aufgabe, die sich der Autor gestellt hat, alles andere als einfach war. So wird die antisemitische Politik während des Zweiten Weltkriegs von rumänischen Historikern und Geschichtswissenschaftlerinnen immer noch kontrovers diskutiert, wenn auch in den letzten Jahren, wie Stiehler anmerkt, bedeutende Fortschritte bei der Rekonstruktion der Ereignisse gemacht wurden. Nichtsdestotrotz fordert der Band implizit eine Aufklärung der Verantwortung der damaligen rumänischen Behörden und der Beteiligung der Zivilbevölkerung und zwingt damit rumänische Leserinnen und Leser, die der deutschen Sprache mächtig sind, sich dem kollektiven 64 ZWISCHENWELT Schatten der eigenen Geschichte zu stellen. In Bezug auf die aktuelle Schoah-Forschung in Rumänien hebt Stiehler die Kontroverse zwischen der Gruppe der 'Patrioten' hervor, "meistens aus der Ceausescu-Ära hervorgegangene Historiker", die zu einer Verharmlosung der Ereignisse neigen und die Schuld gerne dem Einfluss der Deutschen geben, und den sog. "okzidentalisierten" Historikern, die den rumänischen Beitrag zur Judenverfolgung und Schoah anerkennen (S. 7). Aus literarischer Perspektive wiederum sehen sich die Kritiker von vornherein mit Adornos berühmtem Diktum konfrontiert, demgemäß jeder Versuch, nach Auschwitz zu dichten, einer Barbarei gleiche. Stiehler entkräftet zwar nicht diesen grundlegenden Einwand, argumentiert jedoch, dass auch literarische Zeugnisse das Vergessen zu bekämpfen vermögen. Ob sie von unmittelbaren Augenzeugen stammen oder zur "sekundären oder stellvertretenden Zeugenschaft" (mit dem Ausdruck Ulrich Baers) gehören und als solche den zum ewigen Schweigen Verurteilten eine Stimme verleihen, die Literatur hat einen dialogischen oder appellativen Charakter in ihrem Verhältnis zum imaginierten Leser. Interessant ist auch die terminologische Erklärung Stichlers für die Verwendung des Ausdrucks '"Schoah' anstelle von 'Holocaust' oder 'Genozid', um die Judenvernichtung in Rumänien zu benennen: Die letzten beiden Begriffe implizieren den technischen Aspekt des Massenmords bzw. eine (systematische) ethnische Säuberung - beides Charakteristika, die für den Antisemitismus des Antonescu-Regimes nicht zutreffen. Erwähnenswert für die deutschsprachige Leserschaft ist aber vor allem der dichte, informative Rückblick auf die Geschichte des Antisemitismus in Rumänien in den letzten beiden Jahrhunderten, basierend auf rumänischen Quellen (hauptsächlich Leon Volovici, Victor Neumann, sowie auch auf dem Endbericht der Internationalen Kommission für die Untersuchung des Holocausts in Rumänien aus dem Jahr 2005). Aus diesen leitet Stiehler zwei ideologische Faktoren ab, welche die Schoah in Rumänien begünstigt haben: den Aufruf der orthodoxen intellektuellen "Elite" zu einer christlichen Revolution (womit hauptsächlich die Eiserne Garde gemeint ist, die z. T. von namhaften Intellektuellen unterstützt wurde) und die Warnung vor der sog. jüdischen Gefahr "nicht als vor einer inferioren Rasse, sondern als vor einer feindlichen Klasse" (S. 23). Die vier konkreten historischen und literarischen Zeugnisse, die im Weiteren untersucht