OCR
Elfriede Jelinek Ich, darf ich mich vorstellen? Ich bin eigentlich eine angeheiratete Verwandte. Lotte wurde immer böse, wenn ich das Wort Blutsverwandte verwendet habe, aber dank Lotte und Hugo bin ich viel mehr. Und wenn man auf etwas stolz ist, soll man es auch sagen. Soviel gibts da ja nicht. In keinem Leben. Ich bin von Lotte und ihrem Mann sozusagen adoptiert worden. Ich habe bei ihnen und ihren Töchtern eine Heimstatt gefunden. Lottes Triumph über den Tod war so groß, daß sie diese zwei wunderbaren Töchter, vier Enkelkinder und inzwischen drei Urenkel bekommen hat. Das ist nicht schlecht für jemanden, der selbst nicht hätte leben dürfen, wäre es nach den Nazis gegangen. Sie hat sich also selbst dem Tod entrissen und dann hat sie, zu all diesen Reichtümern, auch noch mich dazu gekriegt. Das wäre nicht für jede Familie Grund zur Freude, aber ich finde, daß ich mich als älteste der Töchter, in dieser Familie, die ich hätte stehlen wollen, die ich aber geschenkt bekommne habe, ganz gut mache, oder? Ich finde ich passe, nein, ich gehöre da rein und bin schr stolz auf Lotte und meine Verwandten. Lotte Brainin. Was soll man zu diesem Leben sagen. Man kann ja nicht einmal damit anfangen. Dieses Leben ist so groß für mich. Ich kann mir nicht anmaßen auch nur einen Blick hineinzuwerfen. Aber man muß es wissen und Lotte hat dafür gesorgt, daß man es weiß. Etwas weiß, das ich nicht aussprechen kann. Sie hat mir Dinge aus dem KZ erzählt, die ich nicht über die Lippen bringen würde. Und aufschreiben geht auch nicht. Es gibt nur die Freude, daß Lotte wieder angekommen ist im Frieden, mit Mann und Töchtern. Ein Weggehen — buchstäblich - war ihr möglich. Doch etwas von ihr ist immer zurückgeblieben während sie zu Hause war. Es ist gar nicht anders möglich. Eine schlichte Müdigkeit nach einer Wanderung schaut anders aus. Das was zurückgeblieben ist, ist nicht ein freundliches Ufer und die Fahrt von dort aus ist keine gute. Aber es folgte eine Heimkunft. Und Lotte ist seither Heimgekommen und zu Hause. Wie stark ist ihr Bleiben geworden. War da etwas in ihr, das doch nicht bleiben, nicht da sein konnte. Etwas, das man sich bei dieser schönen tatkräftigen Frau nicht vorstellen konnte, aber da muß etwas gewesen sein, das sie woanders im Schrecken festgehalten hat. Von dem sie sich vielleicht immer wieder losreißen mußte, ich weiß es nicht. Ich sehe nur die energische Frau vor mir, die die politischen Debatten in ihrem Haushalt hart aber fair dirigiert hat. Sie hat das Wort erteilt. Alles muß jetzt im Sprechen ausgetragen werden. Gut so. Das Töten darf nie mehr passieren. Ich stelle mir auch vor, welcher Stärke es - zumindest am Anfang dieser Heimkunft — bedurft hat, um zum Bleiben nach dem Grauen überhaupt fähig zu sein. Gerüstet, wie man so sagt, nur ohne Rüstung. Ich kenne Lotte nur als willenstarke Frau, die in der Gegenwart wirklich verhaftet war. Mit beiden Beinen auf dem Boden, wie man so sagt. Aber ausgerechnet aufdiesem Boden? Wie ist sie dort hingekommen? Wie ist aus diesem Übrigbleiben von der großen Vernichtung nicht das Übrigbleiben einer einzelnen Verlassenen geworden sondern ein wirkliches Zurückkehren und dableiben. Aus einer Ferne, die ich mir nicht einmal vorstellen kann. Wie ist sie in sich selbst zurückgekehrt? Wie war ihr das möglich? Wie konnte sie sich von dort wieder abstoßen ins Politische, für das sie sich vor der Lebenskatastrophe und danach immer so interessiert Lotte Brainin, Videostill aus der Filmdokumentation „Lotte Brainin, Leben mit Eigenwillen und Mut“ von Bernadette Dewald (A 2009). hat. Kann man von einer solchen Frau, durch ihr Darstellen des Erfahrenen das Eigene lernen? Oder lernen, daß das Eigen nie ganz das Eigene ist, weil es durch unzählige Opfer buchstäblich enteignet worden ist. Für alle. Für immer. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich Lotte ganz besonders fest an mich drücke, und ihr zum Geburtstag gratuliere, den sie daheim feiern wird, wo sie hingehört. Das Denken an das Gewesene hat sich aufgehört. Sie ist da. „Wer ist denn schon bei sich, wenn er zu Haus bei sich ist?“ schreibt die Dichterin Elfriede Gerstl, die selbst die Nazizeit im Versteck überlebt hat in einem Gedicht. Ja, Lotte. Wer?“ Wir danken Elfriede Jelinek für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung ihres Grußwortes Lotte Brainin, geboren 12. November 1920 in Wien als Charlotte Sontag; gestorben am 16. Dezember 2020 ebenda. Als Jugendliche Teil einer sozialdemokratischen später illegalen kommunistischen Jugendgruppe. 1938 gelang die Flucht nach Belgien, wo sie Mitglied der jüdischen Widerstandsgruppe Österreichische Freiheitsfront (ÖFF) war. 1943 wurde sie durch die deutsche Militärpolizei in Brüssel festgenommen und gefoltert. 1944 wurde sie nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Sie war im Rahmen der internationalen Widerstandsorganisation bzw. Kampfgruppe Auschwitz aktiv. Der Todesmarsch von Auschwitz nach Gleiwitz/Gliwice im Jänner 1945 und mehrere Monate im Frauen-KZ Ravensbrück folgten. Im Zuge der „Evakuierung“ von Ravensbrück gelang ihr Ende April 1945 die Flucht. Im Juli 1945 kehrte sie nach Wien zurück. Im Jänner 1947 sagte sie als Zeugin im Ravensbrück-Prozess aus, was dazu beitrug, dass eine der Täterinnen zum Tode verurteilt wurde. Mit ihrem Ehemann Hugo Brainin berichtete sie als Zeitzeugin in Schulen und anderen Institutionen. Lotte Brainin war Mitbegründerin der Österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz und Ravensbrück und viele Jahrzehnte im Bundesverband österreichischer Antifaschistinnen, Widerstandskämpferinnen und Opfer des Faschismus tätig. Sie verstarb am 16.12.2020 in Wien. Juni 2021 5