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Erich Hackl Unter Lottes Geleit Worte bei der Verabschiedung der Widerstandskämpferin Lotte Brainin in der Feuerhalle Simmering, am 28. Dezember 2020 Beim Nachdenken über Lotte Brainin ist mir der Stoßseufzer meines alten Freundes Pieter Siemsen in den Sinn gekommen. Pieter war als Kind prominenter Sozialisten aus Nazideutschland nach Argentinien geflüchtet, Anfang der fünfziger Jahre nach Europa zurückgekehrt und unter erheblichen Schwierigkeiten in die DDR übersiedelt, wo er sich immer mehr an den Rand gedrängt fühlte. In seinen vor zwanzig Jahren veröffentlichten Erinnerungen, die den Titel „Der Lebensanfänger“ tragen, lamentierte er über eigene Versäumnisse, die ihn, wie in einem Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel, immer wieder zurück an den Start warfen, über den selbstverschuldeten Verlust alter Freundschaften sowie über die weitverbreitete Neigung, Menschen erst nach ihrem Ableben - auf dem Friedhof, in der Feuerhalle oder beim Leichenschmaus - die fällige Wertschätzung zu erweisen. „Aber ist es im Grunde nicht egal“, schrieb Pieter, „ob man am Grabe eines Menschen noch ein paar Worte sagt, die er doch nicht mehr hören kann? Wichtig ist, dass man ihn im Leben würdigt. Muss einer denn immer erst tot sein, dass man ihn am Leben lässt?“ Lotte Brainin war keine Lebensanfängerin. Liest oder hört man ihre Schilderungen von Kindheit, Jugend und erster Erwachsenenzeit, dann fällt auf, dass sie bei allem Überschwang, der viele ihrer Generation ausgezeichnet hat, früh Verantwortung übernahm. Sie war beständig in ihren Freundschaften, gewann — worauf wir noch zu sprechen kommen werden — zu den alten neue hinzu. In Pieters Klage jedoch, über die allzu späte Würdigung, hätte auch Lotte einstimmen können, wenigstens solange ihr kühner Widerstands- und Überlebenskampf im Austrofaschismus, im belgischen Exil unter deutscher Besatzung, in Gestapohaft sowie in den Konzentrations- und Vernichtungslagern Auschwitz, Ravensbrück, Uckermark von den hegemonialen politischen Kräften und journalistischen Klüngeln ebenso unterschlagen wurde wie ihr Bemühen um Zusammenschluss, Aufklärung und Wissensvermittlung in den Jahren nach der Befreiung. Aber abgesehen davon, dass ein solches Lamento eher Männern als Frauen eignet, trifft es auf Lotte schon deshalb nicht zu, weil sie a) zu bescheiden, b) zu beharrlich, c) zu einfallsreich war, um das Unrecht des Vergessens und Verschweigens hinzunehmen. Zu bescheiden hinsichtlich der eigenen Verdienste und Erfolge. Noch vor zehn Jahren hatte sie es abgelehnt, zu ihrem 90. Geburtstag mit einem Fest gechrt zu werden. „Typisch Lotte'sche Bescheidenheit“, schrieb Tina Leisch damals und verwies darauf, dass schon die fünfzehnjährige Lotte Sontag ihren Geburtstag als Vorwand für eine illegale Feier der großen sozialistischen Oktoberrevolution genommen hatte. Bescheiden war Lotte aber nicht so sehr in dem Sinn, dass sie die politischen Ziele oder gar religiösen Doktrinen in den Vordergrund stellte; sie nahm sich zurück, um diejenigen ins Licht zu rücken, die ihr nahe gewesen waren, die sie geliebt hatte, von denen sie geliebt und geschätzt worden war. Fredi Rabofsky und Fritzi Muzyka zum Beispiel, zwei Rote Falken vom Alsergrund, 6 _ ZWISCHENWELT die Fahrrad und Bücher verhökerten, um mit dem Erlös der mittellosen Lotte zu einer Fahrkarte nach Köln zu verhelfen, ihrer ersten Etappe aufdem Weg in die prekäre Freiheit. Den Grafiker Benno Senzer aus Wien, ihren Freund und Gefährten in der Österreichischen Freiheitsfront. Die aus Berlin stammende Lehrerin Marianne Bradt, ein Jahr älter als sie, die mit ihr im belgischen Untergrund aktiv war und nach der sie eine ihrer Töchter genannt hat. Die polnischen Jüdinnen Ala Gertner, Regina Safırsztajn, Röza Robota und Ester Wajsblum, die Sprengpulver aus der Munitionsfabrik der Metallunion schmuggelten und damit den Aufstand des Sonderkommandos und die Sprengung des Krematoriums IV in Auschwitz, am 7. Oktober 1944, ermöglichten. Niemand von ihnen ist eines natürlichen Todes gestorben, alle sind siean den Lagerstrapazen, unter der Folter oder am Galgen zugrunde gegangen, geköpft oder ins Gas getrieben worden, und dass sie selbst mit dem Leben davongekommen ist, schrieb Lotte nicht ihrer Geistesgegenwart oder Geschicklichkeit zu, sondern der Solidarität und dem Opfermut ihrer Kameradinnen und natürlich auch dem Zufall: „Hätte der SS-Mann an der Rampe, hier in Auschwitz, nachdem wir aus dem Viehwaggon gejagt worden waren, mit dem Finger in die andere Richtung gezeigt, wäre ich, so wie meine Mutter einige Monate später, gleich in der Gaskammer gelandet.“ Zu bescheiden und zu beharrlich in ihrer Würdigung anderer ist Lotte also gewesen, als dass sie in Pieter Siemsens resignativen Befund eingestimmt hätte. Und sie hat, was zu ihren großen Verdiensten gehört, die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass nichts von ihren Erfahrungen, und denen ihrer Kampf- und Leidensgefährtinnen, verlorengeht. Erstens durch die frühe Gründung der Lagergemeinschaft Ravensbrück, an der sie maßgeblich beteiligt war, und zweitens durch ihre Initiative, Anfang der neunziger Jahre politisch wache und begeisterungsfähige junge Frauen zur Mitarbeit zu gewinnen. Marika Schmiedts jüngst enthülltes virtuelles Denkmal www.brainin.at, das in seiner Genauigkeit und Hingabe all die großen Erinnerungsmale beschämt, der Dokumentarfilm von Bernadette Dewald, die Forschungsarbeiten der Sozialwissenschaftlerinnen Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr sind glanzvolle Belege ihres Vermögens, die Stafette in die richtigen Hände zu legen. Was mich aber besonders bewegt — und der Grund dafür ist, dass einen der Abschied von Lotte nicht nur mit Trauer, sondern auch mit Freude und Genugtuung erfüllt — ist die Tatsache, dass der Verstorbenen von ihren Angehörigen ebenso viel Liebe, Vertrauen und Anerkennung zuteil geworden ist, wie sie diesen geschenkt hat. Das ist mir am 12. November klar geworden, beim Geburtstagsfest zu Lottes Hundertstem, dessen Gäste wegen der Pandemie von verschiedenen Orten zugeschaltet werden mussten und zu dem sich deshalb, paradoxerweise, mehr Gratulanten, Gratulantinnen einstellten, als dies unter normalen Verhältnissen der Fall gewesen wäre. Fünf Jahre zuvor, aus Anlass ihres 95. Geburtstags, hatte Bernadette Dewald den „starken Halt“ im Familienleben der Brainins gerühmt, dessen Wirkung augenscheinlich gewesen sei: „Tief eingeprägt in meinem Gedächtnis haben sich die Veränderungen in Gesicht und Körperhaltung Lottes, als sie im Interview vom Leben danach [also nach Verfolgung und Widerstand] zu sprechen begann: größer und weiter wurden plötzlich die Bewegungen, heller und lebhafter, als sie von der politischen Veranstaltung erzählte, bei der sie ‚ihren‘ Hugo kennengelernt hatte.“ Auch Tina Leisch wusste Nachricht