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zu geben von der „wunderbar respektvollen und humorvollen Art und Weise, mit der sich die Brainins — Lotte, Hugo und die beiden Töchter — umeinander kümmern“. Von diesem Kümmern zu Lebzeiten ist es nur ein Schritt zum Kümmern in einer anderen Dimension: Einem in Ostafrika weit verbreiteten Glauben zufolge, dem ich mich als Agnostiker sofort anschließen möchte, gibt es drei Kategorien von Menschen: die Lebenden, die Toten und die lebenden Toten. Letztere sind all jene, die zwar gestorben sind, aber in unserem Gedächtnis, in unseren Idealen und Herzen fortbestehen. Dadurch prägen sie das Handeln und die Einstellungen der Lebenden. Für mich Karl Müller HALTUNG - einst und jetzt Aus einer Rede beim Gedenken an die Bücherverbrennung in Salzburg am 30. April 1938 im Innenhof des Salzburg Museums Mit herzlichen Dank an Land und Stadt Salzburg, das Salzburg Museum, seinem Direktor und Team und allen Kooperationspartnern, die es möglich gemacht haben, dass diese Veranstaltung überhaupt stattfinden kann und hoffentlich einen festen Platz in der Gedächtniskultur unseres Landes und unserer Stadt wird haben können. Als wir bei unseren kritischen Bemühungen um das Wachhalten der unerhörten Vorkommnisse des Jahres 1938 auf dem Residenzplatz zu Salzburg zuerst das Leitwort ZIVIL-COURAGE und nun HALTUNG wählten, waren wir uns auch des Heiklen und Vieldeutigen dieser wohlklingenden Worte bewusst. Sie aber sind Kraft, Zentrum und innere Triebfeder unserer Anliegen. Und doch, wir wissen um die Attraktivität dieser Worte für viele Formen missbräuchlicher Verwendung, ja geradezu zynischer Kaperung - einst und heute. Denn diese Begriffe besitzen hohes moralisches Kapital, kommen leicht über die Lippen - in offenen, demokratisch verfassten Gesellschaften seien sie eigentlich, so könnte man meinen, ungefährdete Selbstverständlichkeit, in anderen Gesellschaften allerdings, zunehmend heutzutage, oft nur unter Lebensgefahr zu üben. HALTUNG als aufrechter Gang, Unkorrumpierbarkeit, humaner Vernunft-Kompass sowie entsprechende gesellschaftliche Praxis, Aufmerksamkeit für die Menschenrechte — gegen Gewalt, gegen politisch und medial geschickt eingesetzte Wahrnehmungsvernebelung, gegen grassierende revisionistische Geschichtsvergessenheit und als Achtsamkeit gegenüber allem Unrecht. Wie gesagt — leicht und einfach zu beschwören, aber schwer zu machen, zu leben. Ich erwähnte „Kaperung“ der Worte und der mit ihnen verbundenen Vorstellungen und Werte — hat man denn je ein autokratisch-totalitäres Regime erlebt, das sich nicht angemaßt hätte, HALTUNG in seinem Sinne zur höheren Ehre seiner Macht zu definieren und die Menschen in seinem jeweiligen Sinne auszurichten? Es wäre eben keine „Schande“ gewesen, sich „freiwillig“ der Bücher-Vernichtungsaktion anzuschließen — „anständig“ wäre es gewesen, wie es hieß. Das Wort hat seine Unschuld verloren und sollte schließlich Verbrechen legitimieren, wie wir wissen. HALTUNG ist ein zerbrechliches und gefahrdetes Gut — und ausbeutbar. Also Augen und Ohren auf. Mephistophelische besteht kein Zweifel, dass Lotte Brainin in dieser neuen Sphäre, in die sie nun eingegangen ist, gegenwärtig bleiben wird. Den Verwandten und Angehörigen, ebenso wie den anderen, für die ich hier stehe: die durch Lottes gerades Leben, ihren lauteren Charakter ermutigt worden sind, die Welt als veränderungswürdig zu erkennen und Unrecht nicht zu dulden. Insofern nehmen wir nicht Abschied von Lotte Brainin, sondern machen uns gemeinsam mit ihr aufin eine neue Etappe, die erst dann enden wird, wenn sich niemand mehr an sie erinnert. Ein langer Weg liegt also vor uns, unter Lottes Geleit brechen wir auf. Verführung ist nichts von gestern. Im Namen von Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Modernität und Fortschritt gerieren sich viele heute als Haltungsapostel und kapernde Piraten für ihre politisch-ideologischen Zwecke. Tarnen und Täuschen ist inflationär ein einträgliches Polit-Geschäft geworden. Vielleicht ist es hilfreich, sich an einige Sätze eines österreichischen Staatsbürgers namens Bertolt Brecht zu erinnern, dem HALTUNG ein „Lob des Zweifels“ war, und zwar in dieser Ausprägung: Gelobt sei der Zweifel! Ich rate euch, begrüfst mir Heiter und mit Achtung den Der euer Wort wie einen schlechten Pfennig prüft! Ich wollte, ihr wäret weise und gäbt Euer Wort nicht allzu zuversichtlich. [...] Den Unbedenklichen, die niemals zweifeln La] Freilich, wenn ihr den Zweifel lobt So lobt nicht Das Zweifeln, das ein Verzweifeln ist! Doron Rabinovici »Haltung einst und jetzt“ Im Gedenken an die Salzburger Bücherverbrennung Die Bücherverbrennung ging der Vernichtung voraus. Sie war der Auftakt zum Massenmord. So wie Heinrich Heine es vorausgesagt hatte. Als 1933 der Dichter Oskar Maria Graf erkennen musste, nicht auf der Liste der Verbannten zu stehen, forderte er das Regime öffentlich auf, seine Schriften zu verbrennen. Er nahm damit in Kauf, seine Werke nie mehr in den Regalen der Buchhandlungen zu schen, sondern vergessen zu sein im eigenen Land. Bertolt Brecht widmete Oskar Maria Graf sein Gedicht „Die Bücherverbrennung“. Von Haltung ist die Rede, wenn sie keine Selbstverständlichkeit ist. Deshalb ist Haltung heuer wohl auch das Motto dieses Gedenkens, denn Demokratie und Rechtsstaat scheinen nicht mehr so gesichert wie einst, sondern geraten ins Rutschen. In vielen Ländern gewinnen jene Bewegungen an Kraft, die mobil Juni 2021 7