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unter Kontrolle. Hinter diesem Phänomen — dem Präventionsparadox - steht die rege Abwehrleistung des Ichs. Die Pandemie hat uns überrumpelt, die Angstsignalsirenen tönten von Bergamo weit über die italienische Grenze hinweg. Die unmittelbar ergriffenen sehr einschneidenden Maßnahmen der Regierungen waren begleitet von auf Angsterzeugung gemünzte, dystopieverheißende Narrative („Bald wird jeder von uns jemanden kennen, der am Coronavirus gestorben ist.“ So Bundeskanzler Kurz und spricht von 100.000 Toten” im Marz und April 2020°°). Dass sich Vieles in uns regt und sich gegen die Anpassung an eine sehr unwirtliche Wirklichkeit — die uns so unmittelbar aus einer ganz anderen herausgerissen hat — stemmt, bleibt nicht aus. Studien belegen die nachvollziehbare Belastung vieler Menschen durch die Pandemie und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen: „Es ist besorgniserregend, dass ein so großer Teil der Bevölkerung psychisch dermaßen stark und lange belastet ist. Denn leider zeigt sich auch ein halbes Jahr nach dem Ausbruch von COVID-19 keine relevante Verbesserung“”', berichtet Christoph Pie, Leiter der Abteilung für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der Donau-Universität Krems und Autor dreier Studien, die im April, Juni und September 2020 durchgeführt wurden. Man kann vermuten, dass diese Konstanz bzw. mitunter Zunahme an Belastung bedeuten, dass die Affekt-Regungen und korrespondierenden Es-Regungen zu fordernd, zu laut, zu Unlust-bereitend und das Ich aktiv in seinen „Gegenaktionen“ wird. Eine Ausdrucksform ist das Präventionsparadox, das Berichterstatter dieser Wehrhaftigkeit des Ichs gegen die quantitative Anflutung ist — nicht nur der Es-Regungen, wie Anna Freud expliziert. Das Ich verteidige sich ebenfalls gegen Unlust, die von außen kommt.”” Die Methode zur Vermeidung von Realunlust und Realangst erläutert Anna Freud an Hand der Tierphobien bei Kindern: u.a. dem bekannten Fall des kleinen Hans und sagt: „Das Ich des Kindes sträubt sich dagegen, ein Stück unliebsamer Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen. So wendet es sich erst einmal von der Realität ab, verleugnet sie und ersetzt das Unerwünschte bei sich durch die Vorstellung vom umgekehrten Sachverhalt. So wird der böse Vater in der Phantasie zum schützenden Tier, das ohnmächtige Kind zum Beherrscher mächtiger Vaterfiguren.“”? Das Ich erspart sich durch die Verleugnung in dieser Phantasiebildung die Angstentwicklung. Anna Freud beschreibt die „Verleugnung in Wort und Handlung“ wie auch die in der Phantasie als dem kindlichen Ich zugehörig und sagt: „Sie kann nur solange verwendet werden, als sie neben der Realitätsprüfung bestehen kann, ohne sie zu stören.“ Auf Sigmund Freud rekurrierend ist die Verleugnung — wie man sie nun in dem Präventionsparadox wahrnehmen kann - keine endgültige. Ihr haftet nicht notwendigerweise etwas von einem Wahn an; sie kann neben der Realität, die einfach in uns schweigsamer wird, existieren: „Was immer das Ich in seinem Abwehrbestreben vornimmt, ob es ein Stück der wirklichen Außenwelt verleugnet oder einen Triebanspruch der Innenwelt abweisen will, niemals ist der Erfolg ein vollkommenerer, restloser, immer ergeben sich daraus zwei gegensätzliche Einstellungen, von denen auch die unterliegende, schwächere, zu psychischen Weiterungen führt.“ Das Präventionsparadox symbolisiert also m.E. einen Fluchtversuch aus der Unausweichlichkeit der Pandemie durch eine Regression, die die Verleugnung darstellt, die wiederum das Lustprinzip sichert. Sandor Ferenczi schreibt — beachtlicher Weise bereits 1913, sieben Jahre bevor Sigmund Freud Jenseits 10 ZWISCHENWELT des Lustprinzips verfasste — „dass das ursprünglich herrschende Lustprinzip und der ihm eigene Verdrängungsmechanismus abgelöst werden durch die Anpassung an die Wirklichkeit, d.h. durch die auf objektive Urteilsfällung gegründete Realitätsprüfung.“ Expert_innen sind Sendeboten einer Wirklichkeit, die uns enorme Anpassungsleistung abverlangt. Der Realitätssinn erlangt „...seinen Höhepunkt (...) in der Wissenschaft, während die Allmachtsillusion in ihr die größte Erniedrigung erfährt...“”°, so Ferenczi. Nicht nur die Anpassungsleistung - auch ein Gefühl der Erniedrigung angesichts einer schr schwer kontrollierbaren Situation, erleben wir also und die Allmacht muss (erneut?”) einer Ohnmacht weichen. Die Regression ist dadurch befördert und gleichzeitig wird der Bemächtigungstrieb in aller Konsequenz wachgekitzelt. Anna Freuds Bericht vom Widerstand der Patient_innen, der sich als Gegenwehr gegen die Analytiker_innen richtet, erinnert an Reaktionen auf die Wissenschaft: „Da ferner der Analytiker mit seinem persönlichen Einfluß für die Einhaltung der analytischen Grundregel eintritt, die das Auftauchen solcher Vorstellungen in der freien Assoziation ermöglicht, richtet sich die Triebabwehr des Ichs auch als direkte Gegenwehr gegen die Person des Analytikers. Feindseligkeit gegen den Analytiker und erhöhte Abwehr gegen das Auftauchen von Es-Regungen fallen automatisch zusammen.“”® Die Wissenschaft erlebt in Zeiten der Pandemie eben diesen Widerstand, der sich aus der Triebabwehr des Ichs speist. Das Ich hat - in dem Präventionsparadox ausgedrückt — eine erfolgreiche Abwehr der Affekte und der unlustbereitenden quantitativen Disbalance gefunden. Nun liefert die Wissenschaft beständig Material, das das Auftauchen der Es-Regungen anregt und die erfolgreiche Unlustersparnis gefährdet. Die Triebabwehr des Ichs richtet sich somit auch gegen die dem Realitätsprinzip verbundene Wissenschaft — gegen Repräsentant_innen, die gleichsam dem/der Analytiker_in in der Psychoanalyse, das Auftauchen der verdrängten Regungen befördern, wenn auch ungleich der analytischen Situation, dies nicht im Interesse des_der Wissenschafter_in liegt. Die „objektive Urteilsfällung“ hat es jedenfalls nicht leicht. Wir finden uns in einem Meer an Information wieder, die zudem konstant aktualisiert wird. Ein Kerngehalt, ein gewisser Konsens der Wissenschaft, der der Realitätsprüfung Verbündeter sein könnte - ist nicht eben gleich verfügbar. Unser Realitätssinn, der gemäß Ferenczi seinen Ausbildungshöhepunkt in der Wissenschaft erfährt, ist mit dieser dissonanten Welt konfrontiert und vielleicht auch überfordert. Der Philosoph Jürgen Habermas dazu im Frühjahr 2020: „So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie.“”? Die Bedrohlichkeit der Pandemie, die Entbehrungen, die Präventionsmaßnahmen abverlangen, erlittene Verluste und Verlustangst stellen im Sinne Freuds Reizverständnis große Reizmengen dar, die uns anfluten und ggf. überfluten. Das Angstsignal als Schutzmaßnahme schafft Gegenbesetzung in uns. Versetzt uns in einen Zustand der Bereitschaft, mit Bedrohlichem umzugehen. „Umgekehrt also, je niedriger (die) Besetzung ist, desto weniger wird das System für die Aufnahme zuströmender Energie befähigt sein, desto gewaltsamer müssen dann die Folgen eines solchen Durchbruches des Reizschutzes sein.“? so Freud in Jenseits des Lustprinzips. Diese Gegenbesetzung — die die Auseinandersetzung mit der Angst bedeutet — birgt aber Unlust, ist eine dem