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beziehen sich doch Begriffe auf eine Welt da draußen. Die Grenze zwischen mir und den anderen wird erst dann zu einer manifesten Isolation, wenn ganz real eine Ausgangssperre politisch verhängt wird. Dem Gelehrten sind Begriffund Realität eins. Redet man nur beflissen genug von der Grenze zwischen den Menschen, befindet man sich unverschens in Quarantäne. Der gesamte Prozess von der begrifflichen Identitätsherstellung über die moralische Bewertung und Denunziation (Lebensretter gegen Lebensgefahrder) bis hin zu gesellschafltichen Konsequenzen wird einfach übersprungen. Das Gerede von der Grenze ist dem als Philosophieprofessor verkleideten Sophisten sogleich die ganze Wirklichkeit. Und so geht es munter weiter zum neuen Zentralbegriff in der Moral: die Grenze, natürlich. Was soll ich tun und was soll ich lassen? Ohne Verbot keine Moral. Das Gute grenzt ans Böse. Doch nicht lang gefackelt und nachgedacht, schnell geht's weiter zur Grenzüberschreitung. Mit neuen Grenzen wird zugleich die Lust zu deren Übertretung gesetzt. Die Grenze ist allgegenwärtig. Endlich kommt sie zu ihrem Recht. Den unverschämten Kritikern der Grenze sei daher sogleich mit Nietzsche, der nicht weiß wie ihm geschicht, gesagt: Grenzen schützen. Sie schützen die Schwachen vor den Starken. Nur die Mächtigen brauchen keine Grenzen. Obwaltet das Recht des Stärkeren wird der Schwache schutzlos zertreten. Die Grenze ist eine Erfindung der Schwachen, um sich zu schützen. Und schon hat der Umsichtige den vorschnellen Kritiker mit dem Bestehenden versöhnt. Von welcher Grenze, von welcher Einschränkung ist hier aber die Rede? Vom rechtlichen Schutz vor Übergriffen, vom moralischen Gebot etwas nicht einfach zu tun, weil man es kann. Mit Berufung auf Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit soll der faktischen Macht durch die Moral eine Grenze gesetzt werden. Diese Beschränkung der Gewalt wird freillich von den von Liessmann heraufgeschworenen „kritischen Interventionen gegen Grenzen“ jedoch gerade nicht gemeint, wenn die Außengrenzen der EU, an denen abertausende Menschen sterben, aus humanitärer Sicht scharf kritisiert werden. In der 2015 entfachten Debatte um Flüchtende versteigt sich der Weise aus dem Abendland sogar dazu, den Kritikern geschlossener Grenzbalken zu unterstellen, es ginge ihnen darum, „in jeder Grenze prinzipiell etwas Menschenverachtendes, Inhumanes, letztlich also Böses“ zu sehen und erschafft sich so einen Widerredner nach eigenem Geschmack, den er eines Besseren belehren darf. In Wirklichkeit richtete sich die Kritik der Flüchtlingsretter aber gegen ganz konkrete massive Mauern, an denen Menschen, die um ihr Leben fürchten, sich den Kopf einrennen. Der Philosophieprofessor spricht hingegen der Grenze an und für sich ein Lob aus, damit die konkrete Mauer darin verschwinde. Nur gibt es diese Grenze in ihrer herbeigeredeten Allgemeinheit nicht. Die Wahrheit ist stets konkret. Die Außengrenze der EU schützt die Starken vor den Schwachen, die Reichen vor den Armen. Die reine Aufzählung ihrer unterschiedlichsten Erscheinungsweisen begründet weder ein Lob der Grenze noch bringt sie einen Erkennt nisgewinn. „Grenzen sind nach wie vor allgegenwärtig: als Barriere, als Pfosten, als Zaun, als Kontrollpunkt, als Sicherheitsschleuse, auf dem Land, im Wasser und in der Luft, im Körper, im Herzen und im Kopf. Grenzen definieren politische Gemeinschaften und staatliche Souveränität, Grenzen scheiden die Menschen nach sozialen, kulturellen, religiösen, sprachlichen, ethnischen und medizinischen Kriterien, Grenzen beschränken und steuern als Regeln und Normen unser Handeln und Verhalten, Grenzen sorgen in Form von Begriffserklärungen und Definitionen für Klarheit im Denken.“ In diesem Wust von Grenzen verschwimmen alle Unterschiede. Ist alles Grenze, bleibt auch ihr Lob unerklärlich. Oder lassen sich ihre negativen Seiten gegen die positiven aufrechnen? Überdeckt die Einsicht in das notwendige Unterscheiden im Denken das vollends entbehrliche Sterben an den Mauern Europas? Definitionen als Grenzen im Denken haben rein gar nichts, ganz und gar nichts, mit den Befestigungsanlagen in Ceuta gemein, auch wenn wir das Wort Grenze in diesem und jenem Fallanwenden. Die Grenze, welche sie auch sei, als eine Vernunft gegen ihre Kritiker verteidigt, läuft in einer Situation, in der jegliche Grenzschließung von der Mehrheit der Bevölkerung beklatscht wird, in den allgemeinen Bocksgesang auf nationalstaatliches Grenzregime und Sicherheit versprechendes Eigenheim hinaus. Damit verrrät die Philosophie jedoch die gesellschaftskritische Dimension. Schneidet man diese weg, stirbt sie. Sich vernünftig gegen die herrschende Meinung zu behaupten ist Arbeit des Denkens, und nicht die Lieferung scheinrationaler Grundlagen für Vorurteile. Mit einem neuen Lob der Grenze, das die Schließung der Grenzen für Asylsuchende in Griechenland, die Weigerung der türkisgrünen Regierung in diesem Land auch nur einen einzigen Flüchtling aus den menschenunwürdigen Lagern auf den griechischen Inseln herauszuholen und aufzunehmen, den Anstieg von Gewalttaten gegen Zuwanderer, die wachsende Beliebtheit rechtsextremer Parteien, die Rechtsradikalisierung chemals konservativer Parteien, die sich verschärfenden Klassengegensätze nicht einmal einer Erwähnung Wert befindet, offenbart sich der Lobsänger als Ideologe, in dessen geschicktem Arrangement aus Spinozas Satz „omnis determinatio est negatio“ „omnis determinatio est affirmatio“ wird. Wer von den Stacheldrahtzäunen Europas nicht reden mag, soll über „Grenze an und für sich“ schweigen. Oder gleich das nächste Lobeswerk verfassen. Gegen all die Kritiker von Kugeln, die Menschen töten, wäre endlich ein Lob der Kugel angesagt — der Welt-, der Mozart- und der Rumkugel, um die Kugel in all ihrer Ambivalenz zu verteidigen. Corina Prochazka Die Herbert-Strutz-Straße in Villach Am Internationalen Holocaust Gedenktag, 27. Jänner, erreichte uns eine Petition an den Gemeinderat der Stadt Villach, in der die Umbenennung der Herbert-Strutz-Straße gefordert wurde. Denn es sei, so die VerfasserInnen „kein unabänderliches Schicksal, wenn die Anwohner der Herbert-Strutz-Straße in einer nach einem illegalen Nazi benannten Straße wohnen müssen“. Der Gedenktag sei „die Gelegenheit Straßennahmen, nach Personen, welche sich der Verbreitung nazistischen Ungeistes schuldig gemacht haben, aus der öffentlichen Würdigung zu verbannen“. Der Name des schwer belasteten Herbert Strutz solle dem des erst kürzlich verstorbenen Malers, Musikers und Humanisten Arik Brauer weichen. 2019 hat der von der Stadt beauftragte Historiker Werner Koroschitz seinen Bericht zu den nationalsozialistisch belasteten Straßennamen in Villach veröffentlicht, von denen 16 als derart stark belastet eingestuft wurden, dass die Stadt Zusatztafeln zu den Straßentafeln anbringen ließ. Auch Herbert-Strutz wurde als „historisch stark belastet“ eingestuft, denn seine „Verstrickung mit dem NS-Regime [sei] über das Maß an Opportunismus und Mitläufertum hinausgegangen“ “Geschichte lebendig und sichtbar machen, dabei nichts Juni 2021 19