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Katja Rainer 600 Jahre Geserah 1421 am 14.3.2021 Geschätzte Menschen! Der kritische deutsche Denker und Publizist Eike Geisel hat dem Sammelband mit seinen Essays zum Thema den Titel „Die Wiedergutwerdung der Deutschen“ gegeben, was — aus meiner Sicht - die „Kampf gegen den Antisemitismus-Politik“ der IKG glänzend charakterisiert. Sie ist eine Reaktion darauf, dass (wie Eike Geisel es treffend auf den Punkt bringt) „die Deutschen den Juden Auschwitz nicht verzeihen können“. Die Entlastungsbemühungen der IKG gegenüber dem strukturellen Antisemitismus feiern mit der Feier „600 Jahre Geserah“ fröhliche Urständ. Die Universalität von Aufklärung und deren heilende Wirkung verhalten sich umgekehrt proportional zu dem Druck, unter dem sie erfolgen. Dass der frisch (nicht alt)- faschistisch katholische Block (KicklKurz) den Chef der theologischen Fakultät arbeitsteilig mit dem „Sich-teilverantwortlich-erklären-Job“ betraut, geschieht genau unter dem Druck der Notwendigkeit, den paar Juden (denn nur ihnen gilt es) die freundliche Fassade zu zeigen, hinter der die Fratze des Antisemitismus und Rassismus weiter machtvoll ihr Unwesen treibt. Das ist das Eine. Das Andere ist, dass die IKG jeden noch so mickrigen Strohhalm ergreift, um daraus ein Boot zu bauen nicht für die Machthaber (die agieren auf festem Boden), sondern für die Juden hier im Land. Das scheint mir eine fatale Wiederholung der Geschichte zu sein, eine Art, nicht aus ihr zu lernen, die die Juden schon unzählige Male zu „Bootsflüchtlingen“ auf see-untauglichen Booten gemacht hat. Etwas ganz anderes ist die Möglichkeit, die uns als Menschen auszeichnet, nämlich zu verzeihen; nach Hannah Arendt einen Neubeginn zu setzen. Das ist natürlich nur ein Neubeginn, wenn wir den Verlauf DANACH anders als DAVOR gestalten können. Wenn dazu andere Beteiligte notwendig sind, müssen die das auch wollen, sonst funktioniert das nicht. Dafür gibt es aber keinerlei Anzeichen (1421 hat sich in anderer Form 1921 wiederholt, und die unzähligen „Wiederholungen“ davor und danach müssen und können nicht aufgezählt werden). Aus dieser Erfahrung ergibt sich, dass wir unser Bild von Neuanfang neu gestalten müssen. Die Texte aller an der Feier Beteiligten gehen über die Bestätigung des historisch beglaubigten Sachverhaltes nicht hinaus; so wie es neben Auschwitz-Leugnern auch solche gibt, die zugeben, dass es Auschwitz gegeben hat, aber die Scham dafür nicht auf sich nehmen und daher auch keine Verantwortung übernehmen KÖNNEN. Denn die Scham geht der Verantwortung voraus; und erst sie beglaubigt die Verantwortung in vollem Umfang. Sonst bleibt es leeres Geschwätz. Wir Juden dürfen den Tätern diese Scham und die daraus erwachsende Reue nicht ersparen. Wir müssen sie ihnen zumuten, sodass daraus ihr Mut erwächst, ihren eigenen Verbrechen ins Gesicht zu schauen. 34 ZWISCHENWELT Verzeihen hingegen ist ein autonomer Akt, für den wir nichts brauchen außer unsere Selbstreflektion, unser Mitgefühl für uns selbst und unsere Anerkennung unseres Selbstwerts. Mit ihrer Hilfe gewinnen wir aus unseren Verletzungen die Medizin, die uns heilt. Katja Rainer, Philosophin und Psychotherapeutin— Wien Hedwig Wingler Grundlos Unser Planet Erde grundlos, bodenlos. Ob Kugel oder Scheibe, Drehung grundlos. Trotzdem schön: Tag und Nacht. Nicht zwecklos. Sonne auch grundlos. Mit grundloser Krone. Der Teich hat Grund. Ist nur ein Homonym. ‘Thales nahm Wasser als Grund. Für Anaximenes war die Luft der Grund. Aber Anaximandros entdeckte das Apeiron. Ein Grundloses und Grenzenloses. Einsichtig. Apeiron! Universum, was für ein Wort. „Eins umgedreht“ — grundlos. Albert Einstein — nach G. W. F. Leibniz — eine neue Formel: Energie ist Masse mal Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat. Es wird ihn beruhigt haben, uns auch. Aber etwa: Er konnte die Gravitation nicht erklaren — Sie war fiir ihn grundlos. Ulmer Miinster steht immer noch aufrecht. Ulm sein Geburtsort. Auf festem Grund? Not sure. Heute modern: Kontingenz. Oder Zufall? Umstritten deren Äquivalenz. Wer weiß. Der Einstein fehlt. Grundlos? Schon lange nicht mehr geweint... Schon lange nicht mehr geweint. Wie ein Blitz die Erkenntnis. Zierlich die Rosenkäfer goldgrün zwischen Blütenblättern. Und die kleinen Vögel im Sandbad. Du lächelst. Wie bist du? Manchmal mit gerunzelter Stirn zwischen besorgt und heiter, auch zittrig. Mitlachend ‚ wenn Kinder lachen. Du zweifelst ob des Halbmonds am Tageshimmel, ob sie noch ist die Kugel mit ihrer geometrischen Formel hoch drei. Spürst Ungenügen. Aber Wehmut, Trauer? Gesicht im Gras in der Dämmerung? Von Hedwig Wingler ist zuletzt eine hochinteressante Besichtigungstour durch ihr Leben unter dem Titel „Vergessenes und Erinnertes“ in der edition keiper erschienen. Ihr gelungener Trick: Sich selbst wie in einer journalistischen Recherche preiszugeben. Und wie sie mit größeren Erinnerungsklumpen behutsam umgeht, verdient Respekt Ein eigenartig genaues Buch.