OCR
kommt nicht gut dabei weg. Bis auf einen kleinen Zipfel [...] Griechenland, in dem Gyömörey sozusagen die klassenlose und geschlechtsbalanzierte Gesellschaft platonisch verwirklicht sicht, während er das hellenistische Ideal der anderen als üblen Trug entlarvt. Als marxistischer Priester steht er außerhalb gängiger Standpunkte und üblicher Zirkelschlüsse, die immer nur beweisen, dass unsere Welt eine der besten sein muss, während man subjektiv den Verdacht nicht loswird, dass sie stinkt.“ Zwar lobt die Kritikerin die sprachanalytischen Ausführungen, die Kritik an der bürgerlichen Kleinfamilie kann sie wenig goutieren, umso mehr aber die Darstellung der Frau in Griechenland. „Darüber hinaus liefert Gyömörey eine brillante Marxismuskritik mit marxistischen Mitteln sowie Exkurse über Revolution, Christentum und Eros, in denen die Grundlage der Mentalität aller europäischer Völker in einer ‚kriegerisch-aggressiven Horden- und Herrenmoral‘ gesehen wird, aber auch etwa die Kreuzzüge als ‚trojanische Kriege einer bronzezeitlichen Rittergesellschaft unter dem Kreuzzeichen‘, durch feudalistische Ehrbegriffe verfremdet. [...] Ein außerordentlich anregendes, aufregendes Buch, das Fragen aufwirft und einer Beantwortung näher zu bringen scheint, die heute erst wenige zu stellen wagen, und die doch von großer Wichtigkeit sind und sein werden.“ * Das Buch wurde auch ins Griechische übersetzt und erschien 1978 im Verlag Papsisis, die wörtliche Übersetzung des neuen Titels („I disi tis disis“) ist ein Wortspiel und lautet Der Westen des Westens, aber auch Der Untergang des Westens. In einem Interview mit der Zeitung / Christianiki beantwortet Gyömörey auch die Frage zu seiner Begeisterung über Griechenland: „Vor allem möchte ich mit einer heftigen Reaktion die Charakterisierung des „Philhellenen“ ablehnen, denn ich halte Philhellenen in der gegenwärtigen Bedeutung der Bedingungen fiir die schlimmsten Feinde Griechenlands. Meine griechischen Freunde nennen mich mit großer Nachsicht Griechen-Maniak. Das ist zu einem gewissen Grad richtig. Und es führt mich zur Frage, was genau ist das Griechentum. Was mich bezaubert, ist die Spontaneität, der Hang des Volkes zum „Absurden“. Ich würde sagen eine „existenzialistische“ Lebensart. Jeder Fxistenzialist in Frankreich kann die Griechen beneiden. Die Franzosen stellen Existenzialisten dar. Die Griechen sind es! / In Griechenland gibt es einen Spielraum für das Widersprüchliche.“ Da es sich um eine religiöse Zeitung handelte, sprach er auch über seine Berufung zum Priester und dessen Funktion in der Gesellschaft: Ich glaubte, das sei die Art, wie ich den humanitären Ideen in meinem Leben am besten dienen könnte. [...]Ich meine, es ist Zeit, dass wir zu vielen Mysterien zurückkehren und den Mut haben, Sie anzuerkennen. Der starke Rationalismus schadet zumindest in mehreren Bereichen. Die Rationalisten machen den Fehler, das Mysterium und den Glauben in verschiedene andere Bereiche der menschlichen Handlungen zu übertragen. Es gibt etwa einen extremen Glauben in die Allmacht der Wissenschaft. Deshalb beharre ich mit Nachdruck auf den Wert des Mysteriums im religiösen Sinn und aufdem Bedarf der Entmystifizierung all der anderen Geheimnisse, die einfach eine „Mode“ der Zeit sind.“ Als berühmtestes Griechenland-Buch der deutschen Literaturgeschichte kann Hölderlins Hyperion bezeichnet werden. Umso absurder erscheint es, dass dieses Buch in Griechenland nur Fachleuten bekannt war — bis Lorenz Gyömörey erstmals eine Übersetzung vorlegte. Als griechischer Native-Speaker wurde ihm vom Eridanos Verlag Dimos Mawromatis zur Seite gestellt. 48 _ ZWISCHENWELT Zudem übersetzte Gyömörey Hölderlins Der Archipelagus, der zweisprachig in einer Ausgabe des Österreichischen Kulturinstituts erschien. Im Zuge der Arbeit kam ein schönes Kompliment von Seiten des Leiters des Hanser Verlags Michael Krüger: „Sie sind der interessanteste Priester, der auf Gottes Erden herumläuft, und sicher der einzige Pater, der Karl Kraus gelesen hat.“* Die Übersetzerin Tula Sieti wiederum fand in Gyömörey einen kongenialen Native-Speaker bei ihrer Übersetzung von Robert Musils Mann ohne Eigenschaften und bei Thomas Manns Buddenbrooks. Auch erinnere ich mich daran, um 1984 die Ubersetzung der Erinnerungen von Andräs Hegedüs, Ungarns Ministerpräsidenten von 1956, von Amorgos nach Athen gebracht zu haben. (Unter Androhung schlimmster Strafen, falls ich sie verlieren sollte.) Diese wurden in einer politischen Zeitschrift als Serie abgedruckt. Lorenz Gyömörey konnte aus dem Ungarischen ins Griechische übersetzen und retour — er war damit wahrscheinlich singulär auf der Welt, allein der Bedarf blieb überschaubar. Sein letztes großes Werk blieb die Übersetzung der Autobiografie von General Jannis Makryjannis (1797-1864). Michael Guttenbrunner schrieb das Vorwort. In einer Rede beschreibt Gyömörey, was ihn an dem General aus dem Befreiungskrieg 1821 so schr faszinierte: „Ich glaube, dass das Phänomen Makryjannis im Weltmaßstab etwas absolut Einmaliges darstellt: ein Mann aus dem Volk, ohne jede schulische Vorbildung, Analphabet, Kämpfer eines Freiheitskrieges und maßgeblich an den politischen Entwicklungen beteiligt, entschließt sich plötzlich mit dreißig Jahren, schreiben zu lernen, um als Moralist sein Leben aufzuzeichnen, das heißt, von seinen Erlebnissen her gesehen den Gang der Dinge zu beschreiben. Das Ergebnis ist aber nicht etwa ein schlecht gefügtes Gestammel, mühsam zu Papier gebracht, sondern ein atemberaubendes Ganzes von einem höchst kompakten Stil, getragen von einer Ausdrucks- und Erzählbegabung, wie sie nur in den gewaltigsten Schöpfungen der Literatur gegeben ist, um hier aber ohne bewusste ‚Kunst‘, einfach aus der ursprünglichen Sprachkraft des Volkes hervorzuquellen.““” Zwar haben Dichter wie Georgios Seferis und Georgios Theotokas seine Bedeutung schon in den 1920er Jahren erkannt, die Geschichtswissenschaft habe ihn jedoch viel zu wenig beachtet. Zudem hatte Makryjannis das erste Buch in Dimotiki (Volkssprache) geschrieben, eben weil er Autodidakt ohne jede literarische Vorbildung war. Die gehobenen Schichten und ihre Literaten bedienten sich hingegen bis ins 20. Jahrhundert der künstlich wirkenden Hochsprache Katharevusa. Umso schwieriger war eine sprachlich und atmosphärisch authentische Übersetzung. Das Buch erschien im Papasissis Verlag und wurde von Kulturministerin Melina Mercouri subventioniert, bei der Präsentation in der Deutschen Schule Athen sprach der PASOK-Minister Akis Tsochatsopoulos. Das Buch wurde von der Griechischen Gesellschaft für Übersetzung von Literatur mit einem Preis gechrt. Es hatte Gyömörey viele Ressourcen gekostet und bleibt sein leider nur wenig beachtetes Vermächtnis. Dies vermerkte auch Michael Guttenbrunner: „Das Buch von Makryjannis, das Gyömörey übersetzt hat, liest niemand und es wird so wenig darüber gesprochen wie über den Berg, auf den keiner hinaufgeht. Es liegt aufgebahrt am Fuß der epirotischen Felsenwand. Zwei eiserne Vögel halten Totenwache, der eine links, der andere rechts. Der linke Vogel hält den Kopf rechtswinkelig, hingedreht, er spricht zu ihm in der Zunge von Lidoriki. Der rechts stehende blickt geradeaus und spricht wie das Buch ins Leere.“*°