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Erneut wurde die Presse auf ihn aufmerksam, erneut konnte er seine Ansichten über die Besonderheit Griechenlands in der europäischen Entwicklung darlegen, Diese findet er im Volkslied und damit verbunden den volkstümlichen Geist in der Literatur, wie er ihn bei Makryjannis, Georgios Seferis und Odysseas Elytis verwirklicht sieht. Die Entwicklung setzte schon sehr frih ein und hatte historisch-soziologische Gründe: „In Griechenland existierte weder in der Periode des Mittelalters, noch während Byzanz eine erbliche Klasse von Aristokraten. Und während der Türkenherrschaft ebenfalls. So ist keine kämpferische Klasse von Bürgern entstanden, etwas, das den Höhepunkt der westlichen Kultur charakterisiert und seinen Verfall durch den Ersatz der Bürger durch Technokraten, im 19. und 20. Jahrhundert. In der Zeit der Aufklärung jedoch war es die bürgerliche Klasse, die kämpft, um den Platz der Aristokratie einzunehmen. [...] Griechenland, glaube ich, unterscheidet sich von Westeuropa durch die Tatsache, dass es nie ein Klassenbewusstsein entwickelt hat, in keiner Klasse und auf keiner Ebene. Es gibt eine Mobilität zwischen den Klassen und deshalb gibt es in Griechenland keine erbliche Klasse von Aristokraten, das blaue Blut, das die Gegensätze zwischen den Klassen schafft. Und sagen Sie mir jetzt nicht, dass ich marxistische Begriffe verwende. Im Gegenteil, ich stütze mich auf logisch belegte Tatsachen.“”' Im Übrigen verneinte Gyömörey die Frage, ob er Marxist sei, lachend mit dem Hinweis, dass ihm ein Glaube genüge. In den letzten Lebensjahren verbrachte er so viel Zeit wie möglich auf Amorgos. Nicht wenige von seinen oder unseren Freunden hatten im Laufe der Jahre den beschwerlichen Weg dorthin geschafft. Dazu gehören sein Neffe Michael Störck und dessen Freund Wolfgang Heidrich, der Sohn des Buchhändlers Erwin Heidrich. Einmal in den frühen 1970er Jahren machte sich sogar der „Doktor“ auf die zwölfstündige Schiffsreise. Der Autor Peter Diem kam mit seiner Familie, Fritz Molden hingegen auf einer großen Motorjacht. Zudem erinnere ich mich an einen Abend mit dem Bildhauer Ioannis Avramidis. Michael Guttenbrunner kam mit seiner Frau Winnie (Winnetou), der Tochter von Carl Zuckmayer. Auch deren Tochter Katharina Guttenbrunner war einige Sommer zu Gast. Der Dichter erlebte das Wiedersehen mit dem Freund und mit Griechenland voller Begeisterung, erinnerte ihn die Kargheit des Lebens auf Amorgos doch an sein eigenes Leben unter Bauern. In einem intensiven Briefwechsel beriet er mit Lorenz Übersetzungsprobleme bei Seferis und Makryjannis. Zusammen mit meinem Vater entstand eine postume, schlichte Gedenktafel an jenem Haus, dem Guttenbrunner ein Gedicht geschenkt hatte: Amorgos (Andenken an Lorenz Gyömörey) Weit weit im Süden rauscht das Meer an einen Strand. Dort steht ein Haus, ein Stall, aus Marmorbrocken aufgebaut, Hürden aus Marmor, grau vom Kot der Herden, und eine salzweiße Kapelle. Dort wächst in Sätzen, strauchbedeckt, die wilde Gegend auf, das Stufenwerk einst hochgeführten Ackerbaus. Dort bei Ruinen weidet Schaf und Ziege Und der Hahn kräht seinen Rufgesang. Die Erde ist ein roter Mörtel. Einzelne Bäume vom Geschlecht der Pinien und Eukalyptus stehn Hoch überm Silber von Olivenbäumen, Bei jedem Schritte klirrt der Schutt, der Wandrer prüft manch blühendes Marmorscheit. Hoch droben schlägt der Geier seine Flügel, der Sperling schwirrt und tschilpt im Felsgeklüft und brodelnd rollt die Woge auf den Sand. Dort in der Bucht erscheint auf einmal auch ein Schiff Mit Rauch, es stößt ins Horn Und gleitet flüsternd hin zum Ankerplatz. Voll stiller Heimlichkeit und reich an Heimlichkeit und rasch an Zeichen ist jener Ort im Meer. Der Asphodelos steht von unsichtbarer Hand durch Berg und Tal gleich dünnen Kerzen aufgeplanzt.’ Aus Ungarn kam mein Onkel Läszlö Patka, der sich in Veszprem einen Namen als Lyriker und Dramaturg gemacht hatte. Er veröffentlichte einen Gedichtband Amorgosz, doch die durch die ungarische Grammatik ermöglichten Wortkaskaden und Alliterationen erwiesen sich bislang als unübersetzbar. Nach seinem frühen Tod verstreuten meine Eltern auf seinen Wunsch hin seine Asche in der Bucht von Katapola. Lorenz Gyömörey verstarb am Weihnachtstag 1989, nicht einmal 60 Jahre alt, begraben liegt er am Athener Katholischen Friedhof. Trotz schwerer Krankheit hatte er essich nicht nehmen lassen, den Abend bei Ida Margaritis und Marina Koutouvalis zu verbringen. Am nächsten Tag wurde er in seinem Wohnzimmer in seinem kleinen, gemieteten Haus im Außenbezirk Chalandri im Lehnstuhl zusammengesunken tot aufgefunden. Es war knapp ein Monat nach dem Fall der Berliner Mauer. Auch wenn er dem Kommunismus sowjetischer Prägung keine Träne nachweinte, so war doch klar, dass nun der von ihm ebenso verachtete Konsumismus triumphieren würde. In seiner kykladischen Klause hinterließ er vor allem Bücher: die komplette Fackel von Karl Kraus in der 2001-Ausgabe, Bertolt Brechts Gesammelte Werke und einige der frühen Romane Thomas Manns. Aus dem Athener Buchbestand brachte ich dann einige Exemplare über das antike Israel zurück zu ihrem Eigentümer, der Theologischen Fakultät der Universität Wien. Auf der Insel dauert eben alles ein bisschen länger. Der schriftliche Nachlass ergeht als Schenkung an das Robert-Musil-Haus in Klagenfurt, um dort an der Seite von Michael Guttenbrunner seine letzte Ruhestatt zu finden. Ein Konvolut theologischer Werke wurde bereits dem Abt von Stift Geras Pater Michael Prohazka übergeben. Lorenz Gyömöreys Lieblingsanekdote war folgende: Nahe des Friedhofs von Katapola lebte ein in Ehren ergrautes Paar. Der Mann wurde mit zunehmendem Alter seinem Hund immer ähnlicher, oder dieser ihm, wer weiß das schon. Seine Frau jedoch war von hoher, anmutiger Gestalt, das bleiche und zugleich jugendlich wirkende Antlitz von schlohweißem Haar umflort. So begab sie sich eines Vollmonds auf einen Spaziergang und begegnete einem Athener Stadtmenschen, der sie zuerst erschreckt ansah und ihr dann verstohlen zuflüsterte, dass er sich immer so sehr fürchte, wenn er bei Vollmond am Friedhof vorbei ginge. Die Frau lächelte mitfühlend und antwortete: „Als ich noch am Leben war, erging es mir genauso.“ — Der Fremdling nahm die Beine in die Hand und ward nie mehr geschen. Juni 2021 49