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Schwester gestorben war. Sie durfte einfach alles, drangsalierte ihre älteren Cousins und Brüder und keiner wagte es, ein Wort zu sagen. Sie konnte schneller schwimmen und laufen wie ihre Brüder und Cousins (behauptet sie jedenfalls) und wußte immer genau, wann wer und wohin gegangen war und was er dort gemacht hat und mit wem er sich getroffen hat. Es war einfach niemand sicher vor ihr. Einmal, so erzählte sie mir, hat sie ihre Schuhe zerschnitten und als „leider kaputt“ deklariert, weil sie neue haben wollte und sie wußte auch gleich, wo die zu bekommen waren, die sie haben wollte. „Naja“, kommentierte sie diese Geschichte, „ich wollte unbedingt diese roten Schuhe haben“. Und ihr geliebter Papa hat gelächelt und die roten Schuhe gekauft. Kurz gesagt: Es mußten alle nach ihrer Pfeife tanzen. Sie war ein sehr hübsches, zartes und äußerst charmantes Kind und daman sich immer Sorgen um ihre Gesundheit machen mußte, wurde ihr jeder Wunsch sofort erfüllt. Diese Privilegien haben ihre beiden Brüder nicht genossen. Mein Vater Ioannis war der Älteste, immer der Beste in der Schule (er besuchte das griechische Gymnasium in Batumi), extrem lebhaft und offenbar schwer zu erziehen. Mein Großvater mußte laufend für zerschlagene Fensterscheiben und sonstige Schäden in der Nachbarschaft aufkommen. Bis ins hohe Alter erzählte mein Vater gerne von Batumi, wie er auf den Schweinen durch die Stadt geritten, die vom Land zum Markt getrieben wurden, auf dahinsausende Kutschen hinten aufgesprungen ist oder von einem Trainingsturm für Fallschirmspringer sprang und dann irgendwie hängengeblieben ist und gerettet werden mußte. Wie das genau gegangen sein soll, konnte ich mir nicht ganz vorstellen. Regelmäßig erschien auch Herr Bagashvili, der Nachbar. Mal war es die Hose seines Sohnes, die mein Vater bei einer Rauferei zerrissen hatte, mal eine Fensterscheibe oder sonst ein übler Streich. Und wie es damals noch üblich war, wurde er dann auch ordentlich versohlt, was offenbar wenig genützt hat. Mein Großvater war ein Mann von sehr strengem Charakter und ehernem Anstand; sein Sohn hat das Leben aber von einer ganz anderen Seite geschen. Onkel Thomas, war ein sanftes und ruhiges Kind. Das vollkommene Gegenteil von seinem großen Bruder. Darum gibt es von ihm aus dieser Zeit auch nicht sehr viel zu erzählen. Er war an Diphtherie erkrankt und mein Großvater mußte einen ganzen Zugwagon mieten um das Kind nach Tiflis ins Spital zu bringen. Meine jüngere Tante Fifi wurde erst 1936 geboren und hat ihren Vater praktisch nicht mehr kennengelernt. 1937 begannen die stalinistischen Säuberungsaktionen. Mitten in der Nacht sind Soldaten ins Haus eingedrungen und haben Großvater verhaftet. Er kam vorerst in ein Gefängnis in Batumi. Meine Großmutter war damals eine sehr lebensunerfahrene Frau, um die praktischen Dinge des Lebens hat sie sich nie kümmern müssen, und es hat sie auch nicht interessiert, wie ich vermute. Jetzt lief sie jeden Tag zum Gefängnis in der Hoffnung, etwas über ihren Mann in Erfahrung bringen zu können. Juni 2021 53