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Schwester mietete. Nun hatten sie zumindest ein Dach über dem Kopf. Der Hunger blieb noch lange und die Kälte Nordgriechenlands im Winter. Mein Vater bemalte weiter die Bauernhäuser von Ptolemaida und sein kleiner Bruder Thomas (damals noch ein Jugendlicher) begann bald bei einem Schafzüchter zu arbeiten. Im Unterschied zu seinen Geschwistern, die alle drei mit einem großen Ego durch die Welt liefen, war er ein sehr stiller und nachdenklicher Mensch. In dieser Zeit begann er Gedichte zu schreiben und wurde dafür heftig verspottet. „ Na so etwas, willst du jetzt Dichter werden? Das ist ja wirklich komisch.“ Er war schr gekränkt und von Gedichten hat man fortan nichts mehr gehört. Ob mein Großvater jemals wieder zurückkehren würde, war nur noch eine vage Hoffnung, vor Allem aber ein großer Kummer für meine Großmutter. Man wußte damals noch nicht, was mit ihm geschehen war. 1943 wurde dann noch mein Vater Ioannis von der deutschen Wehrmacht als Zwangsarbeiter eingezogen und nach Wien verschleppt, wo er bis Kriegsende in einer Metallfabrik arbeiten mußte. Noch während der Besatzungszeit begann in Griechenland ein Bürgerkrieg der bis 1949 andauerte. Es bekämpften sich linke Widerstandsgruppen und rechtskonservative, monarchistische Gruppen. Beide Widerstandsgruppen kämpften gegen die Besatzungsmächte und bekämpften sich gleichzeitig gegenseitig. Der Konflikt wurde zuletzt durch massives Eingreifen der Briten und Amerikaner zugunsten der rechtskonservativen Gruppierungen entschieden. Die Auswirkungen auf die griechische Zivilbevölkerung waren dramatisch. Die Regierungsarmee hat ganze Landstriche entvölkert, um den linken Rebellen ihre Operationsmöglichkeiten zu entziehen, was zu weiteren wirtschaftlichen Katastrophen für die Landbevölkerung führte. Tausende Kinder aus linksorientierten Familien wurden von der griechischen Armee entführt und in ein Umerziehungslager auf die Gefängnisinsel Leros gebracht. Linke Gruppierungen haben ihrerseits selbst viele Kinder zu ihrem Schutz außer Landes gebracht, teilweise auch unfreiwillig. Am Ende dieses Bürgerkrieges 1949 waren große Teile Griechenlands verwüstet und wirtschaftlich ruiniert. Mitten in den Schrecken dieser Zeit stand meine Großmutter und wußte nicht, was mit ihrem Mann geschehen war und ob ihr Sohn noch zurückkehren würde. Inzwischen war auch die kleine Fifi in die Schule gekommen. Die Kinder wurden alle einzeln aufgerufen und mit ihrem Namen und dem Namen ihres Vaters vorgestellt. Als siean der Reihe war, hat der Lehrer gezögert, ihren Namen genannt und dann, statt im üblichen Ritus fortzufahren und anzuführen wessen Tochter sie war, einfach nur „Orphanie“ —“ Waisenkind“ - gesagt. Als würde sie von niemandem abstammen. Damals wurde ihr zum ersten Mal bewußt, daß sie keinen Vater hatte wie all die anderen Kinder. Dieses Wort „Orphanie“ brennt bis heute auf ihrer Seele. Im Grunde hatte ihr Bruder ‘Thomas die Vaterrolle übernommen. Und väterlicher hätte man nicht sein können. Seit er die Zweijährige auf seine Schultern genommen hatte, damals bei der Flucht aus Batumi, hat er sie gehütet bis an sein Lebensende. Und sie war ein anstrengendes Kind mit ihrem ungestümen, wilden Temperament. Extrem kraftvoll und extrem sensibel gleichzeitig, hochintelligent und dann wieder erstaunlich naiv. Einmal, sie muß ungefähr 15 Jahre alt gewesen sein, ist sie einfach mit einer Gruppe von Straßenmusikern durchgebrannt. Nicht etwa aus Verzweiflung, weil sie von zu Hause weg wollte. Nein, es war die große Freiheit und das Abenteuer. „Das waren die besten zehn Tage meines Lebens“, hat sie immer wieder versichert. In diesen zehn Tagen sind ihre beiden Brüder ausgerückt und haben sie auf all den staubigen Landstraßen Nordgriechenlands gesucht. Zuletzt ist sie widerstrebend nach Hause zurückgekehrt und hat nie darüber nachgedacht, wieviel Glück sie eigentlich gehabt hat-da hätte ja einiges passieren können. Im Unterschied zu ihren drei älteren Geschwistern hatte sie das angenehme Leben in Batumi nicht mehr kennengelernt. Ihre Kindheit war geprägt von Vertreibung, Armut und Hunger. Trotz vieler bitterer Stunden war sie ein ausgesprochen lebensfrohes Kind, umtriebig, abenteuerlustig und sicher die kraftvollste der vier Geschwister. Ein Pipi Langstrumpf-Charakter — „ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“ - alles andere wird vom Tisch gefegt. Wenn sie einmal einen Entschluß gefaßt hat, schreitet sie auch unverzüglich zur Tat. Da wird nicht mehr lange nachgedacht, da gibt's kein wenn und aber mehr, da wird sofort Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Mir ist oft die Luft weggeblieben, wenn sie den Leuten die kühnsten Geschichten erzählt hat - alle frei erfunden natürlich —, nur um möglichst schnell und ungehindert an ihr Ziel zu kommen. Bis heute führt sie ein total selbstbestimmtes Leben und sie bestimmt auch gerne über andere, was das Zusammenleben mit ihr nicht immer ganz einfach macht. Nun zurück zu meiner Großmutter ins Jahr 1949. Der griechische Bürgerkrieg war beendet, aber Armut und Hunger sind geblieben. Meine hübsche Tante Georgia war inzwischen mit einem griechischen Großbauern verheiratet und ein Kind war auch schon da. Großmutter hatte Bettwäsche genäht und bestickt, um irgendeine Art von Aussteuer hinzubekommen. Alles wurde in eine Kiste verpackt und als sie abgeholt werden sollte, sind zwei Mäuse über die Kiste gelaufen. Großmutter wurde bleich vor Schreck, denn sie hat das für ein böses Omen gehalten. Das Böse war auch bald da. Der Großbauer bekam Tuberkulose und hat Frau und Kind angesteckt. Das Kind dürfte kaum ein Jahr alt gewesen sein und ist bald gestorben. Der Großbauer ist gesundet und Tante Georgia landete schwerst krank in einem Armenspital in Saloniki. Dort lag sie einige Monate und war eigentlich bereits aufgegeben worden. Wieder war es Onkel Miltiades, der Bruder meiner Großmutter, der seiner Schwester zur Hilfe eilte. Diesmal kam er aus München, wohin er inzwischen übersiedelt war. Wie es ihm gelingen konnte seine TBC-kranke Nichte nach München zu bringen, weiß ich nicht. Aufjeden Fall lag sie dort noch einige Monate in einer ordentlichen Klinik und hat überlebt. Von dem Großbauern hat man nie wieder etwas gehört. Onkel Miltiades (er war, wie schon gesagt, eigentlich mein Großonkel, aber wir nannten ihn alle Onkel) behielt seine Nichte in München, wo sie als seine Sekretärin und Haushälterin mit ihm lebte. Er hatte eine Import-Export Firma für alles Mögliche und ich habe die beiden regelmäßig in München besucht. Abends kamen oft zwei Jugendfreunde von Onkel Miltiades aus Erzerum, ein jüdischer und ein armenischer Kaufmann namens Emir Sass (ja auch die waren inzwischen in München gelandet). Zwischen alten Ikonen und türkischen Teppichen tranken sie Kaffee, rollten den Komboloi durch ihre Finger und sprachen wohl von alten Zeiten. Verstanden habe ich es nicht, denn sie sprachen in einer fremden Sprache, vermutlich war es türkisch oder armenisch. So saßen sie beisammen, immer penibel gekleidet im zweireihigen Anzug mit Weste und Krawatte, wenn auch schon etwas schäbig und verblichen, kündeten sie noch von besseren Zeiten, die sie einst geschen hatten. Nur gelegentlich blitzte die goldene Taschenuhr, Juni 2021 55