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Somit stammen einige Griechen sicher genetisch von slawischen Einwanderern ab, so wie viele Slawen die griechische Sprache annahmen. Albanischsprachige wurden Slawischsprachige und Generationen danach wieder albanophon. Griechischsprachige nahmen Albanisch an und umgekehrt. Daraus zu schließen, dass Serben Albaner wurden und Albaner Griechen, ist nur aufgrund unserer essenzialistischen Kategorien möglich, die aus der Sprache eine totale Srammeszugehörigkeit ableiten, wie sie aber bis zu dem Zeitraum, den dieses Buch behandelt, kaum eine Rolle spielte. Allgemein lässt sich sagen, dass jene Begriffe, die heute homogene Völker bezeichnen, ursprünglich zwar aus einer vagen ethnischen Zuordnung entstanden, aber lange Zeit cher als Namen für soziale Schichten gebräuchlich waren. So wie Türke fand auch Bulgare Verwendung zur Bezeichnung einfacher Bauern Verwendung. Wlachen hingegen diente als Synonym für wandernde Viehzüchter. Sobald der Voulgaros aber in die Stadt zog oder einen Handel aufmachte, trat er im Lichte der öffentlichen Meinung in die Kategorie der Romioi (Griechen) ein. Alex „Seine Auftreten ist unbemüht und gentlemanlike, und obwohl aufgrund seiner übertriebenen Höflichkeit und des ständigen Lächelns der erste Eindruck zurückbleibt, er sei ein gutmütiger, etwas alberner Stutzer, lässt sich an den scharfen, neugierigen Blicken, die ihm unwillkürlich entfahren, erkennen, dass er hinter der fast kindischen Attitüde die präzise und strenge Prüfung seines Gegenübers verbirgt. Seine Freunde schreiben jede seiner Handlungen selbstlosem Patriotismus zu; aber seine Feinde halten mit ihrer Meinung nicht hinterm Busch, dass diese lediglich seiner Partei und seinem Privatinteresse dienen. Die Wahrheit dürfte, wie so oft, irgendwo dazwischen liegen.“ Samuel Gridley Howe Im Jahr 1820 wurde ein etwa 30-jähriger Grieche in den Kreis des Poeten Percy Shelly und seiner Frau Mary in Pisa eingeführt, der die Geschicke Griechenlands wie kein anderer mitbestimmen sollte: Alexandros Mavrokordatos. Der kleine, etwas untersetzte Mann mit den verträumten Augen, der in orientalischer Tracht die Aufmerksamkeit der Pisaner Bildungsschicht auf sich zog, verkörperte ein Stereotyp: das des netten, exotistisch verhätschelten und etwas drolligen Intellektuellen aus exotischen Ländern, nicht ganz ernst genommener Aufputz von Dinner Parties, von dem man niemals glauben würde, dass er nach der Rückkehr in sein Heimatland Revolutionen anführen oder zumindest König würde. Mavrokordatos schmückte sich mit dem Titel Prinz, den er als Neffe des letzten griechischen Hospodars der Walachei, Ioannis Karatzas (1812-1818), zweifelsohne führen durfte. Er selbst hatte sechs Jahre als Megas Postelnikos, als Regierungssekretar, politische Erfahrungen sammeln dürfen. Als Spross zweier prominenter Fanariotendynastien hätte man ihn als Vertreter einer prorussischen, neobyzantinischen Option einschätzen können. Doch so einfach lag die Sache nicht. Die griechische Herrschaft über die rumänischen Provinzen war ebenso von Ausbeutung geprägt wie von einer aufgeklärten Bildungspolitik. In den Akademien von Bukarest und Jassy strömte ungehindert westliches Geistesleben in die östliche Welt. 60 ZWISCHENWELT Mavrokordatos war ein nach allen Seiten offener Kosmopolit, schrieb und sprach Griechisch alt und neu, Türkisch, Latein, Französisch, Italienisch, Persisch, Arabisch und war gerade dabei, seine Englischkenntnisse zu verbessern. Und das — wie sich zeigen würde — aus gutem Grund. Im Jahre 1818 war Karatzas und sein Hofstaat in Ungnade gefallen und nach Pisa geflüchtet, nicht unweit der Handelsstadt Livorno, in der sich die größte griechische Community auf italienischem Boden befand. In Pisa hatte ein weiterer einflussreicher Grieche sein Exil gefunden, Ignatios, Erzbischof Ungarns und der Walachei, eine Graue Eminenz, die hinter den Kulissen so manche Fäden der künftigen griechischen Geschichte spann, und für die Auslandsgriechen mehr politische als spirituelle Autorität besaß. Lange hatte man ihn — und mit ihm seinen Schiitzling Alexandros Mavrokordatos — unter Verdacht, russische Interessen zu vertreten. Doch als Pragmatiker war er einer der ersten orthodoxen Wiirdentrager, der die traditionelle kulturelle Bindung an Mütterchen Russland zugunsten modernerer Weltmächte aufgab. Shelley und Mavrokordatos rezipierten gemeinsam griechische Klassiker und spielten Schach, Mary Shelley, die Autorin des Frankenstein, aber wurde seine persönliche Englischlehrerin. Als Gegenleistung Ichrte er sie Altgriechisch. Und ihr Kontakt wurde dermaßen herzlich, dass sich das Verhältnis ihres Mannes, des Apologeten freier Freundschaften und Beziehungen, zu Alex, wie er von Mrs. Shelley fortan genannt wurde, abkühlte. Bis zu drei Mal pro Tag machte Alex ihr die Aufwartung. Wie aus seinen Korrespondenzen hervorging, musste Shelley die Verliebtheit der beiden etwas säuerlich akzeptieren. Er selbst hing gerade seiner eigenen Verschossenheit für Teresa Viviani, die Tochter des Bürgermeisters von Pisa, nach. Es gibt in beiden Fällen keine Indizien für sexuelle Beziehungen. Shelley galt in seiner Heimat als verruchter Dämon, die Ablehnung seiner radikalen politischen Ansichten brachte ihm als Draufgabe auch gleich das Image eines sexuellen Wüstlings ein, lebte er doch mit seiner Frau und deren Schwester Claire Clairmont in einem Haushalt und hatte die freie Liebe gepredigt. Selbst Byron, dessen schlechter moralischer Leumund wirklich verdient war, glaubte an das Konkubinat der Shelleys. Shelleys Konzept der freien Liebe jedoch hatte nichts vom Amoralismus Byrons. Wie schon bei den deutschen Romantikern war das Image ungehemmter Freizügigkeit bei den Shelleys eine Projektion der Moralisten. Sie waren ein bemerkenswert biederes Paar. Mary Shelley entstammte einer Familie politisch radikaler, aber spröder Protestanten, und bei Percy Shelley war die freie Liebe — meistens - ein schwärmerisches, vergeistigtes Konstrukt. Als wider Erwarten der Aufstand in den Donaufiirstentiimern losbrach, wurde Mavrokordatos nervés, wie jeder Mensch, der befürchtet, die historische Rolle, die ihm nach eigenem Ermessen zusteht, zu verpassen. Es begann eine eifrige Korrespondenz mit seinen Freunden und Vertrauten in der Walachei, in Italien, auf den Ionischen Inseln und in Nordwestgriechenland (Rumeli). Am 1. April schrieb Mary Shelley in ihr Tagebuch: „Alexander Mavrocordato kam mit Neuigkeiten aus Griechenland. Er ist so fröhlich wie ein Adler, der gerade aus einem Käfig befreit wurde.“ Drei Wochen später schon vertrauter: „Alex kam mit guten Nachrichten aus Griechenland.“ Mary Shelley freute sich für Alex, Percy Shelley für die Griechen, deren Aufstand sein revolutionäres Feuer entzündete und das programmatische Gedicht Aellas inspirierte. Die Historiographie