OCR
also zehn Jahre nach dem Massaker, schreibt Susanne Wantoch einen Bericht, in dem auch die Geschichte von Gerasimos G. geschildert wird, der jedoch nicht mit vollem Namen zitiert wird. „Vielleicht am erschütterndsten ist das Schicksal einer Gruppe von griechischen Widerstandskämpfern. Einer der Überlebenden, Gerasimos G., ein junger Mann, der als 19jähriger Partisan im Jahr 1942 von den Deutschen verhaftet und zwei Jahre später nach Stein überstellt wurde, und der noch immer nicht in seine von den Faschisten terrorisierte Heimat zurückkehren konnte ...‘“* Weitere zehn Jahre dauerte es, bis Gerasimos mit vollem Namen über seine Geschichte berichtete. In der „Volksstimme“ 1965 war er auch auf einem Foto zu sehen. „Gerasimos war einer der wenigen, die das Massaker von Stein überlebt haben.“ Es sollte nochmals 20 Jahre dauern, bis Gerasimos Garnelis auch vor laufender Kamera über seine Geschichte berichten konnte. Als der Verfasser mit Gerald Buchas 1995 das erste öffentliche Gedenken für die Opfer des Massakers organisierte und in einer großangelegten Aktion in Kooperation mit der Justizanstalt Stein und den Schulen der Stadt 386 Kreuze aufgestellt wurden und hinter jedem Kreuz eine Schülerin, ein Schüler stand, holte der ORF NÖ für einen Filmbericht auch Gerasimos Garnelis vor die Kamera. Dies sollte der einzige filmische Bericht dieses Zeitzeugen bleiben. Ein Blick in das Archiv des ORF macht deutlich, dass die Berichterstattung über das Gedenken an das Massaker sich auf wenige Beiträge beschränkt. Der erste Bericht datiert aus dem Jahr 1965, weitere wurden 1995, 2008 und 2015 gesendet.‘ Gedenkaktion mit Gerasimos In mehreren Interviews hatte Gerasimos bereits in den 80er Jahren dem Verfasser in Interviews von seinem Leben erzählt. Ein Jahr nach dem Gedenken in Stein war das Augenmerk auf Hadersdorf gerichtet, wo am 7. April 1945 ebenfalls ein Massaker stattgefunden hatte und 61 Häftlinge exekutiert worden waren. Da es für diese Opfer zu diesem Zeitpunkt kein Gedenken auf dem Friedhof gab, organisierten der Verfasser dieses Artikels und Gerald Buchas eine Lesung aus den Totenprotokollen, die Gerasimos Garnelis vornahm. Da der australische Fotograf mit griechischen Wurzeln, Nick Mangafas, dies dokumentierte, haben wir heute ein eindrucksvolles Porträt, bei dem Gerasimos Garnelis seine Erkennungsmarke von Stein in die Kamera hält. Der Grieche aus Stein sollte mich weiter begleiten, wenngleich ich vor seinem Tod nur mehr gelegentlich Kontakt mit ihm hatte. Dass Gerasimos Garnelis verarmt starb und niemand sein Begräbnis übernehmen wollte, war ein weiteres Beispiel der Ignoranz, die leider in seiner Heimatstadt weit verbreitet war. Nach einem Aufruf mit dem Titel „Wer dreimal stirbt“ bekam Gerasimos doch noch ein würdiges Begräbnis. Wer dreimal stirbt: Gerasimos Garnelis „Ich habe die Hand des Toten genommen und hineingebissen, das ganze Fleisch der Hand durchgebissen.“ In einem Berg von Leichen überlebte ein griechischer Widerstandskämpfer das Massaker, das SS und SA am 6. April 1945 an den Häftlingen des Zuchthauses Stein verübten: Gerasimos Garnelis, 1921 bis 1999. Im Kühlhaus der Bestattung in Krems lag ein Toter, ein kleiner Mann, die Todesursache kann nur vermutet werden, 78 Jahre war er alt, mit einem abgetragenen Anzug mit Gilet und Krawatte bekleidet. Seit einigen Tagen war er in seiner Wohnung bereits auf dem Boden gelegen, bis ein Nachbar ihn vermisste und die Polizei verständigte. Am Samstag davor war er zuletzt in der Fußgängerzone in Krems gesehen worden, mit einem für sein Alter und seine Gebrechlichkeit doch noch kräftigen Schritt. Eine Grippe dürfte er übergangen haben, genau wird man es nie wissen, denn um es genau zu wissen, müsste er obduziert werden, und das kostet Geld. Was würde es auch nützen: Gerasimos Garnelis ist tot. Um den Tod bestimmen und vermessen zu können, wäre Geld notwendig gewesen. Um mehr über sein Leben zu erfahren, war kein finanzieller Aufwand nötig, man hätte nur fragen müssen, und er hätte sich sicher sein müssen, dass seine Geschichte gehört werden will und dass er danach keine Angst zu haben braucht. Über sein Leben und seine Kämpfe hat der griechische Kremser Gerasimos Garnelis nur selten berichtet, denn Männer wie er waren in seiner ursprünglichen wie in seiner zweiten Heimat nicht immer gern gesehen, wohl gelitten, von geehrt soll hier gar nicht die Rede sein — doch dies ist eine andere Geschichte. Wer dreimal stirbt, der hat es schwer. Gerasimos Garnelis ist tot und hat dazu noch Glück, denn er muss nicht mehr miterleben, wie sein Ableben die Stadt beschäftigt. Er ist vielleicht mit der Illusion gestorben, dass er doch noch eine Ehrung bekommt. Die Todesursache will keiner wissen, wozu auch. Die viel akutere Frage, wer für sein Begräbnis aufkommen soll, ist tagelang nicht geklärt. Wer soll für einen mittellosen griechischen Kremser bezahlen, damit er endgültig bei den Toten liegen kann? Grieche, Kommunist. Auf alle Fälle ein Gegner des Nationalsozialismus, das scheint zu viel. Seine erste Frau, von der er bereits seit Jahrzehnten geschieden war, fühlt sich verpflichtet, die notwendigen Schritte zu unternehmen. Dabei stößt sie nicht nur auf Mitleid: „Wenn, dann nur das billigste Begräbnis. Wenn!“ Niemand fühlt sich wirklich zuständig. Seit mehreren Jahren stand ich mit Gerasimos in regelmäßigem Kontakt, und ich bin froh, ihn gefragt zu haben über sein Leben. Wer dreimal gestorben ist, für den sind schon zwei Presseaussendungen und Berichte in Zeitungen und Radio notwendig, damit er ein Begräbnis bekommt und der Bürgermeister der Stadt, Franz Hölzl, via Kleinformat „ein Machtwort“ spricht. Wenn schon nicht geehrt, so doch zumindest ein „Stadtbegräbnis“ mit einem schlichten Fichtensarg. Gerasimos Garnelis lebte mehr als 50 Jahre in Krems. Angekommen war er in der Stadt an der Donau im Frühjahr 1944 in einem Viehwaggon. Das nationalsozialistische Regime hat sich bis zum Schluss die Mühe gemacht, die Unbeugsamen und die Opfer mit viel bürokratischem Aufwand durch halb Europa zu verfrachten, um sie nur einem Ziel zuzuführen: sie zu vernichten. Die Chancen für die Zukunft standen in diesem Frühjahr schlecht. Doch für einen, der bereits einmal zum Tode verurteilt worden war, war selbst dieses Leben ein Geschenk. Mehr als 50 Mal stand Gerasimos Garnelis seitdem rund um den 6. April vor dem Denkmal direkt vor dem Tor zur Strafvollzugsanstalt Stein. „Zur Ehre unserer Antifaschisten, die als politische Häftlinge aus Griechenland in das Zuchthaus Stein gebracht, am 6. 4. 1945 von der Waffen-SS ermordet wurden‘, steht in Stein gemeißelt. Juni 2021 63