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als Organisation im Lager direkt — weil wir dieses Camp auch schon davor stets abgelehnt haben. Moria war kein Flüchtlingscamp, sondern ein Desaster und in dem Moment, wo man dort auch noch arbeitet, kollaboriert man mit den inakzeptablen Zuständen. Ich spreche hier natürlich von einem allgemeinen Problem mit Hilfsorganisationen: In autokratischen Strukturen gefällt man sich schnell in der Rolle des „kleineren Übels“; die Frage ist aber vielmehr, welche Wege es gibt, schlechte Strukturen nicht einfach zu perpetuieren und Teil einer Art Elendsverwaltung zu werden. Das Ziel müsste ja umgekehrt sein, das Elend aufzuheben und zu beenden. Gute Hilfsarbeit will sich perspektivisch immer selbst überflüssig machen. Leider ist die Tendenz meist eine andere. Bestes Beispiel sind die sogenannten „palästinensischen Flüchtlingslager“ im Libanon und Jordanien, wo die UNRWA (United Nations Reliefand Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, Anmk.) überhaupt erst die Flüchtlinge schafft, die sie dann verwaltet. Das allerschlimmste für solche Apparate ist das Ende des Leids und, damit verbunden, das Ende ihrer Finanzierung. Unser Ansatz war von Anfang an die Unterstützung von selbstorganisierten Strukturen derjenigen Menschen, die hier her geflohen sind. Wir haben es hierbei janicht einfach „nur“ mit Flüchtlingen zu tun, sondern mit Menschen aus Afghanistan, Syrien, dem Iran, dem Irak, usw. die zuvor bürgerliche Berufe ausübten. Zusammen mit diesen Apothekern, Lehrern, Taxifahrern gründeten wir das „Moria Corona Awareness Team“, das cher afghanisch dominiert ist, und die „Moria White Helmets“, wo sich eher Syrer und Araber zusammengefunden haben. Diese Gruppen haben dann versucht, zumindest rudimentär aufzuklären, ließen Poster in allmöglichen Sprachen drucken, sind mit Megaphonen durchs Camp gelaufen und etablierten auch, als es im nahen Mytilini und zu Beginn des ersten Lockdowns erste Covid-19 Fälle gab, einen Kommunikation zwischen der griechischen Bevölkerung und den Campbewohnern. Ziel war es, die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Wir haben außerdem damit begonnen die Müllabfuhr im Camp zu organisieren, es wurde ein Recycling-Projekt gestartet und auch unsere „alte“ Arbeit — die Bildungsarbeit — wurde wieder aufgenommen. Auch diese wurde von einer selbstorganisierten Gruppe übernommen. Sie gründete die Moria Academia, benannt nach der Akademie Platons. Alles zusammengenommen entstand ein starkes Netzwerk im Modus der Flüchtlings-Selbstorganisation. Es wurden Erste-Hilfe-Kurse und Schulunterricht angeboten, sogenanntes „UÜpeycling“, also die Produktion von Spielzeug aus Plastikmüll in Verbindung mit der Entsorgung von täglich 15.000 WasserHaschen, durchgeführt. All das wurde selbst organisiert. „Stand by Me Lesvos“ half lediglich mit der Logistik. Es gibt bis heute eine Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe und eben nicht das klassische Modell, wo NGOs „refugee volunteers“ rekrutieren, also irgendwelche Flüchtlinge in Westen mit entsprechendem Logo stecken, die dann schuften dürfen aber keine Mitsprache in ihren eigenen Angelegenheiten haben. Diese Ansätze kommen natürlich gut an, weil sie Menschen ernst nehmen, die auch schon davor aktiv waren, beispielsweise in ihren Heimatländern in lokalen Komitees organisiert waren oder gar Widerstand geleistet haben. Daraus ist ein schlagkräftiges Netzwerk entstanden, das auch ganz andere Bilder produziert. Es ist ein anderes Bild wenn die „Moria White Helmets“ den Müll im Camp entsorgen oder wenn 23-jährige holländische Freiwillige in einer Weste den Afghanen den Müll wegräumen und damit subtil zwei Sachen 70. ZWISCHENWELT kommunizieren: Erstens, die haben auch in Afghanistan ihren eigenen Dreck nicht weggeräumt. Das können die offensichtlich nicht. Zweitens, irgendwie „schmutzt“ da der Mensch aus dem Nahen Osten. Statt solche Vorurteile zu tradieren, haben wir versucht Sehgewohnheiten in Frage zu stellen. Das hat auch sehr gut funktioniert. So meinten etwa Menschen, die nach dem Lockdown zurückgekommen sind, dass die „Hölle von Moria“ eine andere geworden sei: Das Selbstbewusstsein der Menschen ist ein anderes, es sieht anders aus, die Leute treten anders auf. Die Tendenz der „NGO-isierung“ haben wir auf unsere Art und Weise bewusst unterlaufen und unterminiert. Du sagtest einmal, dass die Zustände im Lager Moria kein humanitäres, sondern ein politisches Problem seien. Nochmal, Moria war kein Lager im eigentlichen Sinne des Wortes. Es wäre schön, Moria wäre ein normales Flüchtlingslager gewesen, wie sie überall auf der Welt stehen, mit einem Zaun darum, einer klaren Verwaltung, einer Rezeption, Videokameras und einer Camp-Polizei, die Präsenz zeigt. In den Zeltslums in Moria gab es in der Nacht keinen einzigen Polizisten, keine medizinische Versorgung, keine wirkliche Infrastruktur. Wie das in rechtsfreien Räumen immer passiert, haben dann Mafia-Clane die Kontrolle übernommen. Also, das Problem an Moria ist nicht, dass es ein Lager gewesen ist, das Problem an Moria ist, dass es kein Lager war. Die Souveränität über das „Territorium“ des Lagers fehlte. Diese obsiegende Anarchie in Moria markierte im Übrigen das eigentliche Versagen der griechischen Regierung. Nur eine Regierung, also ein Souverän, ist letztlich in der Lage Rechte auch durchzusetzen. Wenn ich rechtlos bin und mit Haut und Haar einer NGOÖ ausgeliefert, finde ich mich in einem Zustand wieder, den Hannah Arendt ebenso beschreibt; dann unterscheidet mich wenig von einem Tier, das vom guten Willen des Tierschutzvereins abhängig ist. Arendt schreibt in dem von Dir erwähnten Aufsatz, dass der Mensch nie so wenig geschützt ist, als wenn er sich nur noch auf sein blofses Mensch-Sein berufen kann. Das genau ist der Punkt hier, ja. Aber warum Moria eine humanitäre Katastrophe gewesen sein soll, weiß ich trotzdem nicht. Ich war 2014 in Dohuk im Norden Iraks, als der Völkermord des Islamischen Staats an den Jesiden stattfand und plötzlich 450.000 jesidische Flüchtlinge in die Stadt kamen. Die militätische Situation war instabil, wir wussten nicht ob der IS weiter vorrückt, die Infrastruktur war schlecht, etc. — das war eine humanitäre Katastrophe. Wenn man weiß, mit was für unglaublichen Katastrophen professionelle Organisationen mittlerweile umzugehen gelernt haben, ist die Versorgung von 10.000-15.000 Menschen dagegen eigentlich das Einfachste was man sich vorstellen kann. Man denke nur an Bangladesch, ein Land, in das z.B. 900.000 Rohingya geflüchtet sind, oder den Irak, wo ein normales Binnenvertriebenenlager aus 50.000 Leuten besteht und halte sich vor Augen, dass diese alle wesentlich besser ausschen als es das Moria-Camp tat. Alle tun so, als wäre die Lage in Moria, mitten in der EU und weniger als 10 Kilometer entfernt von einer funktionsfähigen europäischen Stadt, mit Supermärkten, Flughafen, usw. nur durch irgendwelche Spender in Frankreich, Österreich oder Deutschland zu verbessern. Diese Erzählung