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lenkte den Blick vom politischen Problem der Rechtlosigkeit auf eines von Bedürftigkeit. Die Menschen in den Camps sind aber nicht einfach bloß „Bedürftige“, sondern erstmals abstrakte Rechtssubjekte, die Rechte haben und in erster Linie auf einer rechtlichen Ebene behandelt werden wollen, nämlich als Asylbewerber. Keiner hier ist - im eigentlichen Sinne - ein humanitärer Fall. Aus politischen Problemen entwickelte sich auf Lesbos und darüber hinaus ein selbstreferentieller, hımanitärer Diskurs. Diese Entpolitisierung mündet in einer vagen moralischen Empörung, dem Verlust einer jeden Relationalität und einem Zudecken von Verantwortlichkeiten. Stichwort Verantwortung. Du sprichst von fehlender Souveränität in Moria, sehen wir uns aber die Reaktionen der Europäischen Union auf die dortigen Zustände an, scheinen wir auch auf dieser Ebene mit einem Souveränitätsproblem konfrontiert zu sein. Während die EU-Kommission „Abschiebepatenschaften“ ins Spiel bringt, ist sogar dieser zynische Vorschlag den Regierungen der Visegrad-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) noch nicht radikal genug, alle Beteiligten scheinen in verschiedene Richtungen zu ziehen... Die EU ist nach eigener Definition weder ein Staatenbund noch ein Bundesstaat, und sie drückt sich seit ihrem Bestehen um die grundlegende Frage nach Souveränität. Was mich aber überrascht ist, dass immer so getan wird, als könne die EU wie ein souveräner Staat handeln. Das kann sie nicht. Es ist kein Wunder, dass eine europäische Flüchtlingspolitik in zentralen Fragen nicht funktioniert, sondern „bestenfalls“ sich darauf einigt, den Grenzschutz zu verstärken. Der Minimalkonsens ist: Grenzen weiter hermetisch abriegeln, Rechte weiter aushöhlen. Flüchtlingspolitik seit den frühen I90er-Jahren ist nichts weiter als eine kontinuierliche Aushöhlung von Rechten, die Menschen zustehen, plus der völligen Unfähigkeit wahrzunehmen, dass es zwischen der Situation in Herkunftsländern, etwa in Syrien, und der Tatsache, dass sich Millionen auf den Weg machen, einen Kausalzusammenhang gibt, der auch nur als ein solcher zu verstehen und zu lesen ist. Würden die Bedingungen nicht so sein wie sie sind, würde ja niemand auch nur im Traum auf die Idee kommen sich nach Europa aufzumachen und hier eineinhalb Jahren zwischendurch einmal in Campingzelten im Schlamm zu sitzen. Ist das „Asylproblem“ nun aber zuerst ein soziales Problem oder geht es darin vor allem um politische Teilhaberechte? Hannah Arendt hat auf die Aporie der Flüchtlingspolitik hingewiesen. Als Aporie sind solche Probleme nicht einfach lösbar, sie sind bestenfalls von Tag zu Tag auf humanste Art und Weise zu regeln. Arendt hat einen scharfsinnigen Blick auf das Ende des individuellen Asylrechts geworfen. Die Idee von Asyl in der griechischen Antike war, dass ich für die Taten, die ich begangen habe, verfolgt werde und mir deshalb irgendwo Asyl gewährt wird; so wie etwa Ihemistokles in Babylon geendet ist, obwohl er der Organisator der großen Seeschlacht von Salamis war. Wenn Menschen heute nur für das, als was sie geboren worden sind, zu hunderttausenden und Millionen auf dieser Welt hin- und hergeschoben werden, besteht zwischen dem was sie tun und der Verfolgung, die sie erleiden, kein Kausalzusammenhang mehr. Wenn ich mit den Menschen in den Camps spreche, können nur wenige eine individuelle politische Verfolgung im klassischen Sinne geltend machen. Menschen in Afghanistan fliehen, weil sie Hazara sind, also Schiiten, die von Sunniten verfolgt werden. Sie können nichts dafür, dass sie Schiiten sind, sie können das auch nicht ändern. Leute fliehen aus Syrien, weil sie in einer Siedlung geboren sind, die zwischen die Fronten geraten ist und erst von der, dann von der anderen Seite zerbombt wurde. Die Mehrzahl dieser Menschen fliehen nicht, weil sie individuell irgendwas getan hätten. Es stellt sich hier also die Frage, warum wir diese Leute immer noch zwingen nachzuweisen, dass es einen individuellen Verfolgungsgrund gibt, wenn es so offensichtlich keinen gibt. In dem Augenblick, wo weltweit 80 Millionen Menschen auf der Flucht sind und 75 Millionen davon aus Gründen der Geburt, müsste man auch die alte Idee des Asylrechts, das ja letztlich auf bürgerlicher Staatlichkeit beruht, in Frage stellen und sich überlegen: Was wäre eine adäquate Reaktion des 21. Jahrhunderts auf eben derartige Mengen von Menschen, die von A nach B fliehen müssen, einfach nur, weil sie in die falsche Religion, die falsche Ethnie, das falsche Geschlecht hineingeboren worden sind? Die von dir beschriebene Entwicklung wurde auch schon für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, und insbesondere in Hinblick auf die Flüchtlingswellen in Reaktion aufden Nationalsozialismus, besprochen. In Diskussionen um Flucht und Exil kommt immer wieder der historische Vergleich auf. Wie stehst du zu solchen Vergleichen? Steckt im Wort „Vergleich“ vielleicht schon das Problem, geht es mehr um ein Aufzeigen von Kontinuitäten? Wenn sich jetzt „Kritiker“ hinstellen und angesichts der Tatsache, dass die griechische Regierung innerhalb von 13 Tagen hier ein neues Zwischenlager aus dem Boden stampft, in dem es ein bisschen Stacheldraht gibt, emotionalisierende Fotos machen, Parolen wie „Welt der Lager“ skandieren und behaupten, die Griechen sind die Nazis von heute — und das hat stattgefunden, auch wenn ich das überspitzt formuliere — ist das kein Vergleich, sondern mieseste Denunziation und Propaganda. Daraufkann man nur antworten: Erstens ist Griechenland eines der Opfer der NS-Besatzung gewesen, zweitens hat es — anders als in Deutschland — in Griechenland einen namhaften bewaffnete Widerstand gegen die Nazis gegeben, drittens hat es Griechen gegeben, die wussten was sie taten, als sie Juden vor der Deportation versteckten, viertens haben die Griechen in der Zeit der Militardiktatur genug Widerstand geleistet, dass sie, fünftens von irgendwelchen 25-jährigen deutschen Linken keine Aufklärungsvorträge darüber hören brauchen, dass sie kein demokratisches Land, sondern faschistisch seien. Das ist das eine. Nur weil man einen Stacheldraht sieht, heißt das nicht, dass wir es hier mit Buchenwald und Auschwitz zu tun haben. Das ist Irrsinn. Aber natürlich lassen sich viele Probleme, die wir heute im Zuge der diversen sogenannten „Flüchtlingskrisen“ erleben, auf die Phase der Nationalstaatsbildung nach dem 1. Weltkrieg und das Ende des Projekts „liberaler Staatlichkeit“ zurückführen. Wenn man in Lesbos sitzt, das bis 1912 Osmanisches Reich war, und sich ansicht, welche Verheerung der Versuch anrichtete, aus diesem multiethnischen-multireligiösen Fleckerlteppich ethnisch homogene Nationalstaaten zu schweißen, dann weiß man, dass all die Konflikte im Nahen Osten - sei das in Syrien, sei das im Libanon - immer noch Nachbeben dieses verrückten Erfindens bürgerlicher Nationalstaaten ohne Grundlage sind. Insofern sehe ich da doch sehr viele Kontinuitäten und vieles was zwischen 1933 und 1945 passiert ist, bezieht sich auf die Juni 2021 71