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Figuren erkennt und genau beschreibt, aber nicht verurteilt, sondern sie uns vielmehr verständlich zu machen sucht. Damit kann man Immigranten als Plädoyer für mehr Mitmenschlichkeit und für den Dialog lesen. Er zeigt uns, dass Menschen immer Menschen und damit nicht von sich heraus nur gut oder nur böse sind. So hasst und verachtet die reiche Jüdin Amira als Jugendliche den armen Juden Rubi allein seiner Armut wegen, womit Gershon Shaked zeigt, dass selbst unter den geflüchteten Juden in Tel Aviv angesichts der Schrecken des Holocaust keineswegs nur Solidarität und Zusammenhalt vorhanden sind. Die Episode, in der Amira Rubi auf einem Schulball in aller Öffentlichkeit wild beschimpft, wird aus der Sicht Avners geschildert, der sie zu diesem Zeitpunkt bereits liebt, weswegen ihn ihre Attacke auf seinen besten Freundes umso mehr trifft. Gershon Shaked zeigt uns aber auch, dass schlechte Menschen nicht immer nur schlecht sein müssen, denn Rubis Vater überlebt das KZ nur, da der grausame KZ-Aufscher ihn mit einer Geste der Menschlichkeit verschont, die von diesem Menschen, der Inhaftierte mit Vorliebe zum reinen Vergnügen bei lebendigem Leibe von seinen Hunden zerfleischen lässt, weder zu erwarten, noch zu verstehen ist. Beide Episoden, die Verachtung, welche Amira dem armen Rubi entgegen bringt, wie der kurze Augenblick der Menschlichkeit des KZ-Aufsehers, sind auf ihre Weise schmerzhaft und schwer zu ertragen. Gershon Shaked nimmt jeweils die Perspektive der Figur ein, aus der gerade erzählt wird. Der erste Teil, in dem wir dem Leben des Mediziners Avner folgen, wird nüchtern und distanziert erzählt und es werden auch immer sogleich mögliche Krankheiten des jeweiligen Gegenübers vermerkt. Der zweite Teil, erzählt aus der Perspektive Rubis, ist wesentlich emotionaler, da Rubi sich seiner Vergangenheit stellt und nach Wien zurückkehrt, um dort am Max Reinhardt-Seminar zu studieren. In Wien durchlebt er nicht nur eigene schreckliche Kindheitserinnerungen wieder, sondern trifft auch auf etliche inzwischen entnazifizierte Nazis. Der Alltags-Antisemitismus macht ihm schr zu schaffen. Seine Beziehung zu Wien ist widersprüchlich und überaus ambivalent, da die Stadt für ihn ebenso anziehend wie abstoßend ist. Man merkt, dass sich der Autor selbst wesentlich mehr mit seiner Figur Rubi Weinstock identifiziert als mit Avner Rosenbaum, was wohl auch darauf zurückzuführen ist, dass es, wie wir im Nachwort von Karl Müller erfahren, einige Parallelen zwischen Episoden aus dem fiktiven Leben Rubi Weinstocks und der Biographie des Autors gibt. Man merkt Gershon Shaked ein großes Interesse an einer Psychologisierung seiner Figuren an. So geht es im Roman eigentlich um ein Verständnis des Innenlebens der Figuren, das er uns durch eine genaue Beobachtung ihres Verhaltens sowie durch eine schrittweise Darlegung ihrer Erfahrungen und Erlebnisse zu vermitteln sucht. Sehr viel Raum nehmen dabei Vater-Sohn Beziehungen ein. Im zweiten Teil geht es dann auch oft um die Frage, inwiefern die Haltung, die die Eltern in den Ereignissen des Zweiten Weltkrieg einnahmen, den Lebensweg ihrer Kinder beeinflussen kann. Am Ende des ersten Teiles, der aus der Sicht Avners erzählt wird, sind uns Rubi und Avners Exfrau Amira schon sehr unsympathisch geworden. Amira, weil wir sie als kaltblütige Geschäftsfrau kennengelernt haben, die Mann und Tochter vernachlässigt und zahlreiche Affären hat. Und Rubi, weil er seinen im Sterben liegenden Eltern keine Wärme geben kann und die Hand, die Vater oder Mutter nach ihm ausstrecken, nicht ergreift. Eher beiläufig erfahren wir, dass Rubi Amira heiraten wird. Bemerkenswert ist aber nun, dass es Gershon Shaked im zweiten Teil in kürzester Zeit gelingt, uns den seinen Eltern gegenüber scheinbar so kalten Rubi nahezu sofort in einem anderen Licht zu zeigen, da wir nun genauer der Assimilation Der britische Historiker Robert Graham Knight, dessen Wiener Großeltern in der Shoah ermordet wurden, arbeitet bereits seit Jahrzehnten über die Nachkriegsgeschichte Österreichs im speziellen Zusammenhang mit der Erbschaft des Nationalsozialismus und ihren Konsequenzen. Darüber hinaus ist er ein ausgewiesener Kenner der britischen Außenpolitik. Diese beiden Forschungsfelder haben mit der vorliegenden, auf langjährigen Recherchen basierenden und umfangreichen Studie über die Politik gegenüber den Kärntner Slowenen zwischen 1945 und 1960 eine ideale Schnittmenge gefunden. Unter dem Titel Slavs in Post-Nazi Anstria. Carinthian Slovenes and the Politics of Assimilation, 1945-1960 wurde die 82 _ ZWISCHENWELT Arbeit 2017 in Großbritannien veröffentlicht und liegt nun in einer Übersetzung von Peter Pirker vor. Die nationalsozialistische Politik wollte mit einer Kombination von forcierter Assimilation und Zwangsaussiedelung die kulturelle Auslöschung des Slowenischen in Kärnten betreiben. Dagegen regte sich Widerstand. Südkärnten war die einzige Region Österreichs, in der die Partisanenbewegung als Teil der slowenischen Befreiungsfront (Osvobodilna Fronta — OF) den Machthabern spürbare Verluste zufügen konnte. Die OF führte nicht nur einen antifaschistischen, sondern auch einen nationalen Befreiungskampf zur Vereinigung aller Slowenen innerhalb der jugoslawischen Föderation. Letzterer Umstand erfahren, was erin Wien und später im Kinderheim in Jerusalem alles durchgemacht hat. Der Roman wird umrahmt von einem Vorwort von Mark H. Gelber und einem Nachwort von Karl Müller, der zugleich auch der Herausgeber der vorliegenden Ausgabe ist. Auch ein Glossar sowie Kurzbiografien von Gershon Shaked, Karl Müller und Mark H. Gelber gibt es. Eine Kurzbiografie von Ruth Achlama, die den Roman aus dem Hebräischen übersetzt hat, fehlt allerdings. Geboren 1945, ist sie eine sehr renommierte deutsch-hebräische Übersetzerin, die unter anderem mit dem Paul-Celan-Preis für ihre Übersetzungen von Werken von Amos Oz ausgezeichnet wurde. Amos Oz selbst sagte 1993 in einer israelischen Tageszeitung über sie: “Für mich ist Ruth Achlama nicht nur Übersetzerin, sondern führende Mittlerin der neuen hebräischen Literatur auf ihrem Weg in die deutsche Sprache, eine Reise, um deren Schwierigkeiten ich weiß und deren schmerzliche Seiten ich kenne. In mehrfacher Hinsicht verkörpert Ruth Achlama für mich sowohl die Fähigkeit, nicht Sklave der Vergangenheit zu werden, als auch die Anstrengung, dort eine Brücke zu bauen, wo einmal eine war und zerstört wurde.” Auch der Roman Immigranten von Gershon Shaked lässt sich als Ganzes als Versuch, eine zerstörte Brücke wieder aufzubauen, lesen. Denn es braucht Brücken des wechselseitigen Verständnisses, der Mitmenschlichkeit, des Dialogs. Der Literatur. Gershon Shaked und Ruth Achlama gelingt das nicht nur über Sprach- und Ländergrenzen, sondern auch über Zeiten hinweg. Astrid Nischkauer Gershon Shaked: Immigranten. Roman. Aus dem Hebräischen von Ruth . Achlama. Mit einem Vorwort von Mark Gelber. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Karl Müller. Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2020. 360 S. € 24.wurde ab 1945 in Kärnten dazu benutzt, um — ungeachtet der Tatsache, dass die Aktivitäten der OF in Kärnten ein Beitrag zur Befreiung Österreichs waren — von neuem einen auf das alte deutschnationale Narrativ gestützten “Abwehrkampf” gegen die vermeintliche “Bedrohung” aus dem Süden zu führen. Schon die friedliche Machtübergabe — als “Selbstbefreiung” Kärntens zur Geschichtslegende geworden—des Gauleiters Rainer im Mai 1945 an die neue provisorische Landesregierung ließ Kommendes erahnen. Rainer gab den nachfolgenden Landespolitikern den kollegialen Rat mit auf den Weg, die Nationalsozialisten nicht abzustoßen, “denn dann verlieren Sie die besten Abwehrkämpfer” (S.67). Aber noch war es nicht so weit. Josko