OCR
stellungen umsetzen. In diese Zeit fiel auch die bemerkenswerte Episode mit Kaspar Brandhofer/Leo Reuss — von Felix Mitterer in seinem Stück “In der Löwengrube” dramatisiert. wiewohl zum Katholizismus übergetreten, musste Lothar 1938 fliehen, erst in die Schweiz, dann nach Frankreich, schlussendlich in die USA. Und hier — fern der Heimat — war er bei seinem Lebensthema angelangt: der durch keine Umstände und keine Erfahrungen zu erstickenden Liebe zu Österreich. In zweiter Ehe war er mit Adrienne Gessner verheiratet, die in den USA schnell als Schauspielerin Erfolge hatte; die US-Amerikaner waren ihm in jeder Beziehung wohlgesonnen — er konnte aber nicht dort bleiben, das sagte ihm sein Gefühl. So kehrte er 1946 nach Österreich zurück. Seine Erfahrungen nach der Rückkehr waren ernüchternd, sie konnten ihn aber nicht davon abhalten, seine Heimat wieder ins Herz zu schließen- selbst durch solches nicht; Lothar berichtet: “Als Adrienne wenige Tage nach unserer Ankunft aus Amerika neben dem Fahrer eines Lastwagen Platz nahm, um die aus dem kleinen Haus im Morzg geraubten Möbel von Leuten in Ischl zurückzukaufen, die sie den Räubern abgekauft hatten, und der Fahrer, bevor sie noch fuhren, Adrienne fragte: “Leiden S’in Amerika auch so unter den Juden?” _(259f.) Als Offizier der US-Streitkräfte war er im Kulturbereich für die Entnazifizierung zuständig: Herbert von Karajan und Wilhelm Furtwängler wurden von ihm wieder “gesellschaftsfähig” gemacht und ich — selber Sohn von Flüchtlingen — frage mich, wie man dies so kritiklos befürworten konnte. 1948 verzichtete Lothar auf die US-amerikanische Staatsbürgerschaft und wurde wieder Österreicher, im gleichen Jahr begann er als Regisseur am Burgtheater, um Jahre später Oberspielleiter zu werden. 1974 starb erin Wien. Die Schilderung seines Lebens ist faszinierend, sie zeigt die Zerrissenheit der Menschen, die Österreich verlassen mussten. Sie erweckt gleichzeitig Verständnis für seine Gefühle wie auch Verständnislosigkeit ob Lothars Überschen der Ablehnung, die er durch seine bloße Anwesenheit in Österreich erfährt. Ich frage mich auch, wieso er die Unterstützung, die er durch die USA Trude Philippsohn-Lang (1915-2002) wuchs in Graz als Tochter von Fritz und Else Lang in einer wohlsituierten Familie auf. Else Langs Vater David Stern war Vizepräsident und von 1922 bis 1926 Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Graz. Trude studierte Geschichte und konnte 1938 gerade noch mit einer Dissertation zum Thema “Über die Historiographie der französischen Revolution” promovieren. Mit einem Domestic Permit gelang ihr 1939 als Hausgehilfin die Flucht nach Großbritannien. Ihr Judentum bedeutete ihr wenig: “Yet I knew so little about the Jewish faith, indeed it meant nothing to me.” Sie kam aber in die orthodoxe Familie Berg und beschreibt ausführlich die aus diesen Milieuunterschieden entstandenen Missverständnisse. Elly, für die sie bereits 1942 ihre englischsprachigen Erinnerungen schrieb, war ihre Tante Elly Rosner, die nach Shanghai flüchten konnte. 1946 ging Trude nach Palästina, wo sie 30 Jahre lang im Großraum Tel Aviv an einem Gymnasium unterrichtete. 1948 heiratete sie Kurt Philippsohn. Er stammte aus Dresden, sein Beruf wird leider nicht genannt. Ihr Sohn Hans lebt in Gauting bei München, ihre Tochter Hanna Spectorman in Tel Aviv. Einige Hintergrundinformationen über die Familie gibt Dieter A. Binder in seinem ausführlichen Nachwort. Gerald Lamprecht beschreibt die Geschichte der Arisierung der Rohproduktenhandlung von David Stern. Binder zitiert auch Philippsohn-Langs 17seitige Erinnerungen, die 1996 in dem Sammelband Frauenstudium und Frauenkarrieren an der Universität Graz erschienen sind, und erwähnt ihre “erzählenden Texte” in der Zeitschrift Geschichte und Gegenwart. Es ware fiir an Frauen- und Exilbiographien interessierte Leser besser und informativer gewesen, das englischsprachige, nicht immer schr reflektierte Manuskript zu straffen und die deutschsprachigen Erinnerungstexte der Autorin in einem zweiten Die in Brüssel lebende Journalistin Brigid Grauman hat drei Generationen ihrer Familie beschrieben und fand “viele Ausdrucksformen der jüdischen Selbstidentifikation”, die sie an Schnitzler erinnerten: “In seinem Roman ‘Der Weg ins Freie’ hat Arthur Schnitzler Figuren geschildert, als Verkörperung der vielen Formen des Judentums im Wiener Bürgertum des frühen 20.Jahrhunderts: vom selbsthassenden Juden bis zum Zionisten, vom Kulturliebhaber bis zum Snob.” Graumans Urgroßvater Siegmund Flatter stammte aus Lomnice in Mähren, ein Ort, den die Autorin im Zuge ihrer Recherchen auch besucht hat und sehr schön beschreibt. Er führte in der Wiener Brigittenau mit der Hilfe seiner Frau Josefine, die ebenfalls aus Mähren stammte, zwei Schnapsschanken. Laut seiner Urenkelin gab er seinen Kunden viele Tipps und Ratschläge, und “war sehr beliebt wegen seiner lockeren und umgänglichen Art und erhalten hat, zwar zu schätzen wusste, aber trotzdem nicht angenommen hat. Zum Abschluss noch Strophen aus seinem “Emigrantenlied”, 1938 vor Flüchtlingen in Paris vorgetragen: Wir haben Bücher geschrieben, Und Menschen gesund gemacht, Wir sind bei den Fahnen geblieben Und wurden trotzdem vertrieben, Bestohlen, gequält und verlacht. Jetzt sind wir von allem verlassen, Was je uns einte und schied, Wir Bettler in fremden Gassen Wann lernen wir endlich zu hassen Das Land, das uns so verriet? Es wird ein Geleite stehen Habtacht zu unserer Ehr! Wir werden inmitten gehen Und Osterreichs Fahnen wehen So unbefleckt wie vorher. Roberto Kalmar Ernst Lothar: Das Wunder des Überlebens. Erinnerungen. Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann. Wien: Paul Zsolnay 2020. 384 S.€ 25,70 Teil des Buches zu publizieren. Die Herausgeber verzichteten auf Anmerkungen, weshalb Ungenauigkeiten (“village”, “friends”, “the rabbi”) unaufgeldst bleiben. Sie verzichteten auch auf behutsame Korrekturen von Flüchtigkeitsfehlern. (“the Seitenstetter synagogue [...] Jewish warship”, S.42). Trude Philippsohn-Lang war eine kluge, sympathische und vielseitig interessierte Frau. Uber ihre engen Freunde, die Wiener Judaisten Kurt und Ursula Schubert, kam ich mit ihr in Kontakt und erinnere mich gerne an die Besuche in ihrer Wohnung im Zentrum von Tel Aviv. Evelyn Adunka Trude Philippsohn-Lang: On My Way to Adoption. My Story, Written for Elly. Erinnerungen einer Grazerin im englischen Exil 1939-1942. Hg. von Dieter A. Binder und Gerald Lamprecht. Graz: Clio 2020. 330 S. € 25,seiner Vorliebe für einen herzhaften Witz, und die Schank fungierte bald wie ein geselliger Klub.” Für Verwandte und Freunde gründete er auch einen Wohlfahrtsverein. Siegmund und Josefine hatten fünf Kinder. Bruno Flatter wurde Handelsreisender und flüchtete nach London. Joseph Otto Flatter wurde Maler und ging mit seiner zweiten Frau, der Konzertpianistin und Komponistin Hilda Loewe, 1935 nach London, wo er als Karikaturist für Zeitungen und, Juni 2021 85