OCR
ich hörte Schleichen, Wispern, Knacken, es raunte um die Ecken, ich hörte wohl ein Lied aus der Ferne, ... sonst sah und hörte ich nichts.—Die Zeit verging, Tage und Wochen vergingen, ich spürte, wie das Leben an mir vorbeiging, unaufhaltsam entwich es aus Hirn, Herz und Händen, Seele und Sinne waren der trübe Spiegel einer noch trüberen Flut von Stunden, die träg sich schleppte, zwischen Leben und Tod, aber dem Tode näher, gefährlich nah dem Tod. [...] Die Welt, unsichtbar, unfühlbar, unhörbar geworden, war für uns nicht mehr da.” Nur vermittels von Büchern drang die Welt noch zu der Gefangenen vor. Die Lektüre wurde zur Sucht, zur Büchersehnsucht. Mit den Büchern verschlangen die Gefangenen die Welt, von der man sie weggesperrt hatte. Und eines dieser Bücher gab ihr die Antwort auf die ständig von Neuem an ihr nagenden Frage “Habe ich, haben wir nicht unseren Weg verfehlt?” und vertrieb den zersetzenden Zweifel am eigenen Tun, als sie bei André Gide den Satz “Mein Ich ging vor mir her.” las. Ein Buch gab ihr die Antwort auf eine sie qualende, existentielle Frage. “Eine aufrührerische, rebellische, unruhige Jugend, in eine unruhige Zeit gestellt, hat Revolution gemacht. Hatte sie den Weg verfehlt?-Nein. Sie handelte aus Impuls, echtem Antrieb, aus Leidenschaft, Fanatismus, Überzeugung und Überschwang ... sie handelte aus diesen Vorrechten der Jugend, fehlerhaft, fehlerhaft, gewiß, aber entsprechend ihrem inneren Gesetz, im Einklang mit sich selbst.” Eine Kraft liegt in dieser bisher unveröffentlichen Schrift, an die nur einzelne wenige ihrer Gedichte heranreichen. Meist launisch leichte, locker luftige, satirisch kecke Verse, lassen sie die Dringlichkeit der beschriebenen Erfahrung von Unterdrückung und Haft vermissen. Im Laufe der 20er Jahre verlagerte sie ihr künstlerisches Schaffen weg vom Malen hin zur Schriftstellerei. Sie schrieb Lieder und Gedichte, trug sie im Rundfunk oder bei Lyrikabenden vor und veröffentlichte kurze Prosastücke in Tageszeitungen und Zeitschriften. Von ihrem kommunistischen Engagement war an diesen humorvollen Alltagsbeobachtungen, ironischen Beschreibungen vom Liebesleben, in gereimter Form vorgebrachten Lebensweisheiten, Sinngedichten bis hin zu melancholisch-nachdenklichen Versen wenig mehr zu merken. Das kann ihr natürlich nicht zum Vorwurf gemacht werden. Doch die Erschütterung durch die Lektüre ihrer Hafterinnerungen lassen Gedichte über Pudel, Theaterbesuche und den rechten Kleiderkauf allzu bekömmlich erscheinen. Mir erschließt sich jedenfalls der Reiz vieler dieser lockren Verse nicht. Durchwegs positive Reaktionen ihrer Zeitgenossen brachten sie bis kurz vor die Veröffentlichung eines schmalen Gedichtbandes, dessen Erscheinen durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten zunichte gemacht wurde. Lessie Sachs und ihr Mann, der Komponist Josef Wagner, schlugen sich noch bis 1937 mit Hauskonzerten, literarischen Abenden und der Veröffentlichung von Gedichten in jüdischen Zeitschriften durch, emigrierten schlussendlich dann im September in die Vereinigten Staaten, zunächst zu Verwandten nach St. Louis, dann nach New York. Vor über einem Jahr, im September 2019, fand im Wappensaal des Wiener Rathauses eine von Marcel Atze und Tanja Gausterer konzipierte Tagung zum 150. Geburtstag Felix Saltens statt. Die Anwesenheit der beiden Enkelinnen Felix Saltens, Lea Wyler (Zürich) und Judith Siano (Haifa) mit ihren Familien machten diese Veranstaltung zu einem besonderen Erlebnis. Die Gründe für diese Tagung und für die von Oktober 2020 bis zum 25.4.2021 zugänglichen Ausstellungen der Wienbibliothek im Rathaus und des Wienmuseums in seinem Ausweichquartier MUSA in der FelderstraBe sind der Ankauf von Felix Saltens Nachlass durch die Wienbibliothek in den Jahren 2015 und 2018 und der 75. Todestag des Dichters, der im Oktober 1945 in seinem Exil in Zürich starb. Wie Marcel Atze im Begleitband ausführt hat Salten vor seiner Auswanderung 1939 in die Schweiz viele Briefe und Manuskripte vernichtet. Das Niederlassungsgesuch wurde zwar bewilligt, die Tolerierung musste jedoch jährlich verlängert werden. Saltens Tochter Anna Katharina, die in Zürich mit ihrem Ehemann, dem Schauspieler Hans Rehmann, lebte, musste für ihre Eltern eine Kaution von über 15.000 Franken erlegten. Nach Rehmans Tod im August 1939 heiratete sie 1944 den zionistischen Rechtsanwalt und Herausgeber der Zeitschrift Das neue Israel Veit Wyler. Saltens rund 3000 Artikel haben 90 ZWISCHENWELT sich in seinen umfangreichen Srapbooks erhalten, die in der Ausstellung auch gezeigt werden. Sie befanden sich bereits 2006/7 in Wien; damals widmete das Wiener jüdische Museum Salten eine Ausstellung, zu der damals ein von Siegfried Mattl und Werner Michael Schwarz herausgegebener lesenswerter Begleitband erschien. Marcel Atze beschreibt auch Saltens Haltung zum Ersten Weltkrieg; mit seiner Frau Ottilie engagierte er sich für galizische Flüchtlinge in Wien und in seinen Feuilletons schilderte er ihr Schicksal. Dieter Hecht widmet sich in seinem Beitrag dem Thema “Ein alter Mensch auf neuer Erde? Felix Salten in Palästina”. Er erwähnt auch die Kolumne “Die Woche”, die Salten ab 1897 für Theodor Herzls Zeitschrift Die Welt schrieb, verabsäumt aber darauf hinzuweisen, dass sie nicht namentlich gezeichnet war. Murray G. Hall beschreibt den Rechtsstreit um die 1906 anonym publizierte Geschichte der Wiener Dirne Josefine Mutzenbacher und kommt zum Ergebnis, dass Salten das Buch nicht verfasst hatte. (Die Behauptungen von Saltens Autorschaft reichten indes von Friedrich Torberg, Fritz Molden bis zu Ilse Stiaßny-Baumgartner im Österreichischen Biographischen Lexikon). Auch im Nachlass fanden sich keinerlei Hinweise auf Saltens Autorschaft, hingegen die pornographische Erzählung Albertine, die im Begleitband erstmals publiziert wurde. Hall Das Schreiben im englischsprachigen Exil gestaltete sich schwierig. Sie schickte literarische Berichte über ein Ankommen im Exil, das nie ganz gelang, humorvolle Beobachtungen über das Neue in der fremden Kultur und auch das schöne, traurige Exilgedicht “Und draußen weht ein fremder Wind...” an die jüdische C.-V.-Zeitung nach Deutschland. In den USA selbst vermochte sie als deutschsprachige Lyrikerin nicht Fuß zu fassen. Im Janur 1942 erlag sie mit nur 45 Jahren einem schweren Krebsleiden. Auf die Initative von Josef Wagner erscheint posthum 1944, mit einem Geleitwort von Heinrich Mann verschen, der Band “Tagund Nachtgedichte”. Jürgen Krämer und Christiana Puschak ist es zu verdanken, dass diese heute vergessene Dichterin durch das Buch “Das launische Gehirn. Lyrik und Kurzprosa” wiederentedeckt werden kann. Das ausführliche Nachwort der HerausgeberInnen verschafft einen guten Zugang zum von den politischen Hoffnungen und Katastrophen des frühen 20. Jahrhunderts geprägten Leben von Lessie Sachs. Ich sitze hier und biit’ das Kind, Und draußen weht ein fremder Wind, Singt eine fremde Melodie, Ein fremdes Lied, ich hört’ es nie, Ein Lied, Das mich nicht einbezieht. Aus: “Und draußen weht ein fremder Wind...” Bernd Zeller Lessie Sachs: Das launische Gehirn. Hg. und mit einem Nachwort von Jürgen Kramer und Christiana Puschak. Berlin: AvivA Verlag 2019. 319 S. € 19,62 konnte auch plausible Argumente für die Lösung des Rätsels, wer das Buch geschrieben hatte, vorweisen und tippt auf einen Autor namens Ernst Klein. Mit seinen von ausgewiesenen Experten und Expertinnnen wie zum Beispiel Katharina Prager und Daniela Strigl verfassten 23 Beiträgen ist der Begleitband eine wichtige literaturwissenschaftliche Publikation und Einführung in das Leben und Werk Felix Salten. Im Begleitband nur als Artikel erwähnt, aber im Shop des Wienmuseums erhältlich sind Saltens autobiographische Feuilletons Währinger Erinnerungen, da sie 2020 erstmals vom deutschen Verlag entenpress in Buchform veröffentlicht wurden. Seinen Vater beschrieb Salten dort als einen aufgeklärten Menschen, der an die “Versöhnung aller Menschen” glaubte. Ebenfalls zu kaufen gibt es die überaus lesenswerte Studie von Manfred Dickel, “Ein Dilettant des Lebens will ich nicht sein”. Felix Salten zwischen Zionismus und Wiener Moderne, aus dem Jahr 2007. E.A. Im Schatten von Bambi. Felix Salten entdeckt die Wiener Moderne. Leben und Werk. Hg. von Marcel Atze unter Mitarbeit von Tanja Gausterer. Wien: Residenzverlag 2020. 495 S. € 29,