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Editorial Zwei Jahrhunderte der Lager Ein kurzer Rückblick auf das 20. Jahrhundert legt nahe, statt von einem „Jahrhundert der Extreme“ (kurz oder lang) vom „Jahrhundert der Lager“ zu sprechen, gekennzeichnet durch Umsiedlungen, Vertreibungen, Zwangsarbeit und Massenmord mit einem ersten Kulminationspunkt in der Zeit des Ersten Weltkrieges. Sieht man sich in den bereits verstrichenen Dezennien des neuen Jahrhunderts um, schließt das 21. lückenlos an das 20. an. Erscheint das Menschenrecht in ultraliberal-biologistischer Deutung des Naturrechts als angeborenes Recht der Einzelnen, losgelöst vom sozialen und politischen Kontext, bedeutet die Verwahrung, Folterung, Vernichtung der Lebenszeit von Menschen und Mißachtung ihrer elementarsten Lebensbedürfnisse in den Lagern kollektives Menschenunrecht. Es müßte ein erstes Ziel aller um die Menschheit Besorgten sein, die Lager aufzulösen, ihre Insassen zu befreien und ihnen Lebensmöglichkeiten außerhalb der Stacheldrähte und Wachtürme zu schaffen. Die von den Nationalsozialisten Verfolgten verbrachten Jahre des Exils vielfach hinter Stacheldrähten, ob in Italien, Frankreich, England, der Schweiz, in China, Indien oder Japan. Erinnerungen, Berichte, Gedichte aus vielen dieser Lager haben wir in ZW veröffentlicht, wahrscheinlich mehr als irgendeine andere Zeitschrift im deutschen Sprachraum. Nach Möglichkeit ließen wir die selbst einst Internierten zu Wort kommen und werden diese Gepflogenheit auch beibehalten, so im vorliegenden Heft mit den Berichten der einstmaligen „enemy aliens“ Valentin Pollack (Isle of Man) und Joseph Henderson (Dunera-Deportation nach Australien). Mit der Internierung von Gefliichteten befaft sich auch der in nachster Zeit im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft erscheinende, von Gabriele Anderl herausgegebene Band „Hinter verschlossenen Toren“. Die Erinnerungen und Berichte von Verfolgten werfen immer wieder die Fragen von Authentizität und Plausibilität auf, und manch ein Historiker grenzt das Autobiographische vom wissenschaftlich Nutzbaren durch seine eigene Skepsis ab. Nicht uninteressant ist dazu ein schon vor Jahren (2017 in der Zeitschrift „Emma“, (Nov./Dez. 2017, S. 35-41) erschienener Aufsatz von Chantal Louis „Besonders feine Kreise“. Chantal Louis beschäftigt sich darin mit Angriffen auf die Traumatologie in Zusammenhang mit der Ahndung von Sexualstraftaten. Der Traumatologie gegenüber steht hier die „Aussagepsychologie“, praktiziert von vielbestellten Gerichtsgutachtern, die auf Grund von „Realkennzeichen“ Wahrheit von Lüge unterschieden wissen wollen. Denn: „Wer lügt, erzählt weniger anschaulich und detailreich als jemand, der die Wahrheit sagt. Oder auch: Wer die Wahrheit sagt, ist in der Lage, eine ‚konsistente‘ Aussage abzuliefern, sprich: eine Schilderung, die das Erlebte von vorne bis hinten durchgängig und ohne Brüche erzählt.“ (S. 40) Das scheinen die gewöhnlichen Eigenschaften all dessen, das Plausibilität erstrebt. Plausibilität vermag, etwas glaubhaft zu machen. Damit ist eine Situation vor einem wirklichen oder imaginären Gericht intendiert. Der Richter oder die Richterin möge glaubhaft finden, was er in freier Beweiswürdigung nach seiner Lebenserfahrung und mit seinem „gesundem Menschenverstand“ für plausibel hält. 4 ZWISCHENWELT Dem halten die TraumaforscherInnen entgegen, dass sich traumatisierende Freignisse nicht mit der gleichen Gelassenheit nacherzählen lassen wie die Abläufe von herbstlichen Gartenarbeiten. Gerade die Gebrochenheit der Erinnerung in manchen Abschnitten deutet für sie auf das durch die Untat verursachte Trauma. Sie können sich dabei sogar auf Erkenntnisse der Hirnphysiologie berufen. Überträgt man diese hier nur angedeutete Kontroverse auf die niedergeschriebenen Erinnerungen von Flüchtlingen und Überlebenden der nationalsozialistischen KZs mit ihrer doppelten Gebrochenheit der Lebensläufe durch wahllos ausgeübten äußeren Zwang und durch lebensbedrohende Traumatisierung, so deutet bei ihnen alles allzu Plausible, alle Lücken zwischen den Ereignissen Füllende auf Verdecktes, Vergessenes, mitunter sogar Beschönigtes. Ihre Erinnerungen sind ohnehin im Sinne von zu erzielender Glaubwürdigkeit oft wenig plausibel. Den SS-Mann, der zugeschlagen hat, können sie nicht mehr beschreiben, es ist eine Uniform, die ihm das „Recht“ dazu gab. Und auch den Zeitpunkt können sie nicht mehr genau festlegen. Oft verloren die Häftlinge in den Lagern die zeitliche Orientierung; und auch was „draußen“ geschah, wurde ihnen vielfach gar nicht oder erst viel später bekannt. Sie hatten keine Akteneinsicht, sich ein geändertes Verhalten oder die weiteren Absichten ihrer Bedränger zu erklären. Chronologie der Ereignisse und Vollständigkeit der Schilderung geraten notwendig durcheinander. Dazu tritt der verständliche Impuls, die Gräuel nicht erinnernd repetieren zu wollen. Die Bruchlinien werden häufig dissimuliert. Nicht alle tun das; aber die, die es tun, weisen durch die „Klebespuren“ dennoch auf die Brüche hin. „Ein Lied bricht durch“ hat Elisabeth Frischauf ihren Gedichtzyklus in diesem Heft übertitelt. In kunstvoll fragmentierter poetischer Rede handeln ihre Verse von der einst weitverzweigten n Familie, von der gegenwärtig bleibenden Ermordung der Großmütter, von der Traumatisierung der Überlebenden. Mit ihrer Empörung und Auflehnung erhebt sie den Anspruch unverwechselbarer Subjektivität. Wir vernehmen eine starke Stimme aus New York. Einer Zeitgenossenschaft, die sich effekthaschende Surrogate wie „Der Junge im gestreiften Pyjama“ ohne Murren gefallen ließ, wo die Entsubjektivierung der Opfer der Verfolgung in ihrer Austauschbarkeit finalisiert, wird Frischaufs großes Gedicht vielleicht unverdaut im Magen liegen bleiben.— Konstantin Kaiser Wir danken der Journalistin und Schriftstellerin Susanne Scholl, die durch eine erste Übersetzung von „Ein Lied bricht durch“ die Arbeit an der Übertragung des Zyklus sehr gefördert hat. Ernst Karner danken wir für die Übersetzung von Elisabeth Frischaufs Gedichtband „Die meine Hand ergreifen“, der im Herbst im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft in der Reihe „Nadelstiche“ erscheinen wird. Karner ist nicht nur ein versierter Übersetzer aus dem amerikanischen Englisch, sondern selbst auch Lyriker, von dem wir in der nächsten ZW Werkproben vorstellen werden.