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Erich Hackl Ende des Erinnerns? Über die Instrumentalisierung des Gedenkens an die Verfolgten des Naziregimes Der Text ist die erweiterte Fassung einer Rede, die Erich Hackl im Sommer dieses Jahres auf Einladung der „Freunde des Deserteurdenkmals in Goldegg“ in der gleichnamigen Salzburger Gemeinde gehalten hat. — Am 2. Juli 1944 hatte ein riesiges Aufgebot von Gestapo, Gendarmerie und SS auf der Suche nach sechs Wehrmachtsdeserteuren die Wälder, Almen und Höfe rings um den Goldegger Ortsteil Weng durchkämmt. Zwei Männer wurden von der Gestapo ermordet, einer fiel im Kampf mit der SS, zwei wurden im Oktober desselben Jahres im KZ Mauthausen gehenkt. Vierzehn ihrer Helfer — Sennerinnen, Altbauernleute und Nachbarn — sind in Ravensbrück und Dachau umgekommen. Die Erinnerung an die Ereignisse ist in Goldegg bis heute umstritten. Der von Brigitte Höfert, der Tochter eines Deserteurs, initiierte Gedenkstein durfie auf Gemeindebeschluss nicht auf öffentlichem Grund gesetzt werden, vor drei Jahren wurde er geschändet. Um diese Rede zu konzipieren, musste ich mich von einer ungemein fesselnden Lebensgeschichte losreißen. Es handelt sich um die detailscharfen Erinnerungen des Malers und Grafikers Rudolf Schönwald, Jahrgang 1928, mit dem ich seit langem befreundet bin. Kindheit im austrofaschistischen, schon von den Nazis unterwanderten Salzburg, 1939 bis 1943 als „Geltungsjude“ in Hamburg und Wien verfolgt, dann Flucht mit der Mutter und dem jüngeren Bruder nach Ungarn, Lagerinternierung, Schneiderlehre, Untertauchen, mühseliges, stets gefährdetes Überleben in Budapest. Rückkehr nach Wien im September 1945. Nachkrieg, Maturaschule, Studium an der Akademie der Bildenden Künste, Anfeindung als gegenständlicher Maler und kommunistischer Sympathisant im Kalten Krieg usw. Alles höchst dramatisch, aber mit viel Witz und Humor pointiert erzählt. Unvermeidlich, dass eine solche Lebensgeschichte, wenn man über Monate damit befasst ist, manche Überlegungen steuert, die sich mit dem Erinnern heute befassen. Denn natürlich beschränkt Schönwald sich nicht auf das Erzählen; immer wieder hält er in der Chronologie der Ereignisse inne, um daraus Schlüsse zu ziehen. Zwei Äußerungen haben mich zum Nachdenken gebracht. Die erste fällt in Zusammenhang mit dem Kriegsverlauf der Jahre 1940 bis 1942, in denen die deutsche Wehrmacht scheinbar unaufhaltsam von Sieg zu Sieg eilt, während die Judenverfolgung immer entsetzlichere Ausmaße annimmt. In der Billrothstraße sieht Schönwald die Möbel der aus ihren Wohnungen geworfenen, in Sammellager oder Deportationszüge gepferchten jüdischen Bevölkerung: Küchenkredenzen, Stockerln, abgestoßene Sessel, durchgewetzte Sofas. Er erwähnt, dass es nicht ratsam war, nach dem Schicksal der verschleppten — offiziell: umgesiedelten — Juden zu fragen. Und er zieht folgenden Schluss aus Angst und Gehorsam der erwachsenen Bevölkerung: „Der Druck des Regimes war so gewaltig, dass er schon der nächsten Generation nicht mehr verständlich gemacht werden konnte.“ Der Satz ist den Älteren unter uns — also den Angehörigen dieser „nächsten Generation“ — wohlvertraut. Denn jahrelang hatten wir auf die Frage, wieso der Widerstand gegen das Naziregime vom Gros der Österreicher nicht unterstützt wurde, gerade diese Antwort erhalten: dass uns die Vorstellungskraft für das engmaschige Netz fehle, in dem die Menschen gefangen waren. Eine Ausrede für fehlende Courage oder ausgebliebene Reue, dachten wir, und wahrscheinlich lagen wir damit nicht ganz falsch. Trotzdem hat mich Schönwalds Befund zum Nachdenken gebracht. Er stammt ja von einem Verfolgten, der durch Zufall und dank eigener Gewitztheit den ihm zugedachten Schicksal entgangen ist, also wahrlich keinen Grund hat, Feigheit und Opportunismus der anderen durch Hinweis auf die politischen Umstände zu rechtfertigen. Sein Satz ist mir jedenfalls unlängst in den Sinn gekommen, als Gabriela Zerhaus Spielfilm Ein Dorf wehrt sich (2019) von Arte ausgestrahlt wurde. Er zeigt die Widerstandsaktionen der Partisanengruppe „Willy“ bzw. „Fred“ um Karl Gitzoller und Sepp Plieseis, der es gelang, die von Gauleiter Eigruber angeordnete Zerstörung der im Salzbergwerk Altaussee eingelagerten europäischen Kunstschätze zu verhindern. Ein guter, um historische Wahrheit bemühter, dazu noch auf Arbeiter und Handwerker konzentrierter Film, dem vieles hoch anzurechnen, nur eines anzukreiden ist: dass er das von Rudolf Schönwald erwähnte gewaltige Ausmaß an Repression zwar behauptet, aber nicht wirklich darzustellen vermag. Man merkt das an der eigenen Ungeduld, der des mitfühlenden, mitleidenden Betrachters, über den ausbleibenden Aufstand angesichts der überschaubaren Menge an SS-Männern, Volkssturmleuten und Wehrmachtssoldaten. Ich meine damit, dass die Totalität von Herrschaft und Überwachung einem durch den Film nicht plausibel wird. Vielleicht ist dieses Manko darauf zurückzuführen, dass er, um es in den Worten eines ehemaligen Widerstandskämpfers — nämlich des Schriftstellers Franz Kain — zu sagen, die Vergangenheit nicht mit den Augen und der Verständnismöglichkeit von damals wahrnimmt. Historische Filme, auch dieser, täuschen die angestrebte Authentizität vor, indem sie einen Firnis über die laufenden Bilder legen, gedämpfte Farben, sepia- oder rotstichig, die der Farbgebung von Filmen aus der damaligen Zeit nachempfunden sind. Aber die Tönung löst nicht das Problem der Gestaltung, das sowohl eine ästhetische als auch eine inhaltliche, und politische, Dimension besitzt. Zerhaus Film beschäftigt mich noch aus einem anderen Grund. Vor über fünfzehn Jahren, Anfang 2006, hatte ich mich in einem Aufsatz mit der unterschiedlichen Aufarbeitung der Vergangenheit in Spanien und in Österreich befasst und dabei den Widerstandskämpfer, Buchenwald-Häftling, Schriftsteller und nachmaligen Kulturminister Jorge Semprün zitiert, der auf die Frage, was ihm für die Zukunft Angst mache, geantwortet hat: „Die Erinnerung. Es verschwinden die Zeugen der Vernichtung.“ Das Präsens, das Semprün verwendete, ist inzwischen der Vergangenheitsform gewichen, mit ganz wenigen Ausnahmen wie der meines bejahrten Freundes Schönwald sind keine Zeugen mehr am Leben. Vom französischen Soziologen und Philosophen Maurice Halbwachs, der in Buchenwald umgekommen ist, stammt der Satz: „Wenn die Erinnerung endet, beginnt die Geschichte.“Ein anderer Philosoph, der Spanier Reyes Mate, hat schon damals, 2005 oder 2006, darauf hingewiesen, dass wir hinsichtlich der großen gemeinschaftlichen Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts — der sozialen Revolution, des Widerstands gegen Faschismus und Nationalsozialismus sowie, auf Österreich bezogen, des Kampfes um die nationale Befreiung — an den Punkt gelangt sind, den Halbwachs angesprochen hat. Es sei ein traumatischer Wandel von der Erinnerung zur Geschichte, meinte Reyes Mate, denn mit dem Ableben der Zeugen gehe etwas für immer verloren: „Wir können die Tatsachen rekonstruieren, indem wir uns der September 2021 5