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Archive bedienen, aber wenn wir uns der Bedeutung, dem Sinn dieser Tatsachen nähern wollen, brauchen wir die Zeugen, müssen wir wissen, wie sie diese Ereignisse erfahren haben. Wir sind von ihnen abhängig, genauer, von ihrer künstlerischen oder literarischen Fähigkeit, sich mitzuteilen. Das ist es, was mit dem Tod des letzten Überlebenden verloren gehen kann. Hingegen gewinnt man Genauigkeit in der Rekonstruktion des Vergangenen.“ Reyes Mates Feststellung lässt mich an eine andere Überlegung Rudolf Schönwalds denken. An einer Stelle seines Berichts betont er, von den Vorfällen in Ungarn nach dem deutschen Einmarsch, unter der Schreckensherrschaft der Pfeilkreuzler und während der monatelangen Schlacht um Budapest nur das mitbekommen zu haben, was sich in seinem unmittelbaren Umfeld ereignete, führt aber für sich ins Treffen, im Gegensatz zu den Historikern, die diese Ereignisse bis in die kleinsten Details recherchiert haben, dabeigewesen zu sein. „Sagen wir es so: dass ein heute lebender, versierter Altertumsforscher über das Römische Reich hunderttausendmal mehr weiß als ein ägyptischer Sklave, der im Schweiße seines Angesichts die Caracallathermen im alten Rom geheizt hat, steht außer Zweifel. Nur, der ägyptische Sklave war dabei! Ich bin dieser verschwitzte ägyptische Sklave: Ich weiß gar nichts, aber ich bin dabei gewesen. Letzteres möchte ich mit aller Deutlichkeit unterstreichen, auch wenn sich aus meiner Zeitgenossenschaft keine Kompetenz ableiten lässt. Weder meine Geschichtskenntnisse noch die Einsichten, die ich aus meinen Erfahrungen gewonnen habe, reichen an den Wissensstand derer heran, die sich eingehend und unter Auswertung aller möglichen Quellen mit meiner Lebenszeit beschäftigen. Andererseits möchte Aber bedeutet Dabeisein, dass es auf den Zeugen nur solange ankommt, als er am Leben ist? Tilgt die Geschichte tatsächlich die Erinnerung? Kann diese nicht doch das physische Verschwinden der Zeugen überdauern? Ein Dorf wehrt sich tritt hierfür den Beweis an. Denn obwohl von den realen Vorbildern ihrer handelnden Personen niemand mehr am Leben war, konnte sich die Filmemacherin auf deren Erinnerungen stützen, die zum Glück sowohl von Historikerinnen als auch von Schriftstellern, ja sogar in Autobiografien und Erfahrungsberichten der Widerstandskämpfer selbst schriftlich oder in Tondokumenten festgehalten wurden. Zerhaus Film eignete sich deshalb als Beleg für die Behauptung des spanischen Philosophen, dass die individuelle Erinnerung unter bestimmten Voraussetzungen in das kollektive Gedächtnis — einer Region, einer Nation, eines Kontinents — eingehen könne. Das Beispiel, das Reyes Mate damals, vor fünfzehn Jahren, angeführt hat, sollte auch die „Freunde des Deserteurdenkmals in Goldegg“ darin bestärken, in ihren Bemühungen um gesellschaftliche Anerkennung der verfolgten, in den Konzentrationslagern Mauthausen, Ravensbrück und Dachau ermordeten Deserteure und ihrer Angehörigen nicht nachzulassen. Er nannte die Asociaciön para la Recuperaciön de la Memoria Histörica, auf deutsch „Vereinigung zur Wiedergewinnung des historischen Gedächtnisses“, in der sich Angehörige von zivilen Opfern der frankistischen Repression mit Historikern, Archäologen und Laien zusammengetan haben, die sich mit den nie geahndeten Verbrechen der Diktatur beschäftigen. Die Organisation existiert seit Beginn dieses Jahrhunderts, hat bisher hunderte Massengräber geöffnet und die darin Verscharrten identifiziert. Aber es geht ihr nicht nur darum, die sterblichen Überreste von ermordeten Familienangehörigen zu bergen und würdevoll zu bestatten; durch ihre Zuwendung zu den besiegten Republika6 _ ZWISCHENWELT nern bekennen sie sich auch zu einer politischen Bewegung, die durch den Staatsstreich der Militärs unter General Franco und die Niederlage der demokratischen und revolutionären Kräfte zerschlagen wurde. Auch hierin erkenne ich eine Parallele zu den Aktivitäten des Vereins der „Freunde des Deserteurdenkmals“ — nämlich für die reale, also nicht nur juristische oder symbolische Rehabilitierung der Deserteure einzustehen, was den Kampf für gesellschaftliche Verhältnisse inkludiert, unter denen die Taten der Verfolgten und Besiegten endlich wirkungsmächtig werden können. Es ist nicht zu leugnen, dass wir uns in dieser Hinsicht in der Defensive befinden. Zum einen gelingt es dank persönlicher Initiativen zwar immer wieder, gerade im ländlichen Raum, Erinnerungsmale zu setzen, andererseits erleben wir innerhalb wie außerhalb Österreichs einen Generalangriff auf erinnerungspolitische wie zeitgeschichtliche Positionen, von denen wir gehofft hatten, dass sie endgültig außer Streit stünden. So gewinnt man den Eindruck, dass die Geschichte nun — mit dem Verschwinden der letzten Zeugen von Verfolgung und Widerstand — im Zusammenspiel von Dummheit und Kalkül für politische Interessen instrumentalisiert wird. Einige Beispiele hierfür, und ich beginne mit der Dummheit: Im vergangenen Jahr hat die österreichische Grüne Jugend ein Plakat gepostet, das sich vordergründig gegen „die Festung Europa“ richtete, also die verwerfliche, hartherzige Flüchtlingspolitik der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Dafür war über einem Foto von Schloss Belvedere, in dem Vertreter der vier alliierten Mächte am 15. Mai 1955 den österreichischen Staatsvertrag unterzeichnet hatten, unter Anspielung auf den berühmten Ausspruch des damaligen Außenministers Leopold Figl folgender Satz zu lesen: „ÖSTERREICH/IST FREVERFUNDEN.“ Mit diesem Slogan stellten sich die grünen Jugendfunktionäre nicht nur in eine infame Tradition, nämlich die großdeutsche und nazistische, die der österreichischen Nation bis heute ihre Existenzberechtigung abspricht, sondern auch in Opposition zu den Tausenden Männern und Frauen, die im Kampf für ein freies Österreich umgekommen sind. Eine unredliche Geschichtsklitterung hat auch der Schriftsteller Robert Menasse betrieben, als er seine abstruse Behauptung von Mai 2017, am Jahrestag der Befreiung des KZ Ebensee, dass „die europäische Idee, die vorläufig zur Europäischen Union geführt hat, in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nazis entstanden“ sei, in Zeitungsartikeln und Interviews noch weiter zuspitzte, indem er kundtat, Walter Hallstein habe seine Antrittsrede als Kommissionspräsident der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1958 im ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz gehalten - um damit zu unterstreichen, wohin die Idee der Nation letztlich führt, nämlich geradewegs in die Vernichtung -, und dem CDU-Politiker überdies einen Satz zuschrieb, den er ebenso erfunden hatte wie dessen Antrittsrede in Auschwitz: „Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee!“ In einem Kommentar hat Ingo Way, Redakteur der Jüdischen Allgemeinen, auf die doppelte Perfidie dieser Art von Instrumentalisierung von Auschwitz — „um der eigenen Position in einer heutigen politischen Debatte moralisches Gewicht zu verleihen“ — hingewiesen. Denn zum einen habe der österreichische Schriftsteller sich mit Hallstein ausgerechnet einen ehemaligen Nazijuristen als Gewährsmann für seinen Antinationalismus ausgesucht, zum andern sei der israelische Nationalstaat nicht nur, aber auch als Reaktion auf die Menschheitsverbrechen gegründet worden — „damit sich ähnliches nicht wiederhole“.