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Die Zeitgeschichte als Selbstbedienungsladen für allerlei Ideologen. Im September 2019 verabschiedete das Europaparlament mit Zustimmung fast aller österreichischen Abgeordneten (die Grüne Monika Vana enthielt sich der Stimme) eine Resolution. Unter dem Titel „Zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas“ wurde darin behauptet, dass der Zweite Weltkrieg die „unmittelbare Folge des berüchtigten Nichtangriffsvertrags zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion vom 23. August 1939“ gewesen verfolgt hätten und, ebenfalls zu gleichen Teilen, für abscheuliche „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verantwortlich seien. Kein Wort darüber, dass es die westlichen Demokratien waren, die durch ihre als Nichteinmischung deklarierte Beschwichtigungspolitik Nazideutschland dazu ermunterten, 1936 bis 1939 in Spanien auf Seiten der aufständischen Generale, gegen die demokratisch gewählte Volksfrontregierung, Krieg zu führen, 1938 Österreich zu okkupieren und wenig später über die Tschechoslowakei herzufallen. Verschwiegen wurde auch, dass die Sowjetunion mit siebenundzwanzig Millionen Toten das Hauptgewicht im Kampf gegen das Dritte Reich trug und dass der Widerstand in den von Deutschland besetzten Ländern, auch in Österreich, zum Großteil von Kommunisten geleistet wurde. Wie zur Zeit des Kalten Krieges wurden die beiden Hauptkontrahenten als eineiige Zwillinge präsentiert. Waren die Totalitarismusapostel damals bemüht gewesen, die Hauptschuld am Weltkrieg vom Deutschen Reich auf die Sowjetunion abzuwälzen, um die in der BRD in Amt und Würden auferstandenen Nazis rehabilitieren zu können, so ging es ihnen nun darum, das revanchistische Geschichtsbild von Polen und dem Baltikum auf ganz Europa zu übertragen. Diesem Ziel diente nicht nur der Beschluss, den 23. August von nun an als „Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer totalitärer Regime“ zu begehen, sondern auch die kaum verhohlene Forderung, nach dem Vorbild osteuropäischer Staaten das Tragen oder Zeigen marxistischer Symbole in der gesamten Union zu verbieten. Dass die vom Europaparlament betriebene Geschichtsfälschung sogar schon die Opferverbände infiziert hat, erweist sich an der Willfährigkeit, mit der der Bund sozialdemokratischer Freiheitskämpfer in seinem Mitteilungsblatt dem SPÖ-Abgeordneten Günther Sidl Platz einräumte, um sie in unbeholfenen Worthülsen zu verteidigen. Viel zu spät, und auf die falsche Art, reagierten die österreichischen Lagergemeinschaften Ravensbrück und Dachau auf die Resolution. Zu spät, weil sie erst einmal die Stellungnahmen der nationalen Europaabgeordneten abwarten wollten, die in den meisten Fällen ohnehin ausblieben; und falsch, indem sie per Internetpetition die Rücknahme der Entschließung von denselben Leuten forderten, die sie ein halbes Jahr zuvor verabschiedet hatten. Was diese von den Opferverbänden halten, offenbarte Sidl, indem er allen Einwanden mit dem Hinweis begegnete, dass sie „von altkommunistischer Seite“ stammten. Die schändliche EU-Resolution findet ihren musealen Aufputz im „Haus der europäischen Geschichte“, das vor vier Jahren im Brüsseler Parc L&opold eröffnet wurde. Auch darin werden, wie der Journalist Jean-Baptiste Maltet in der Juni-Ausgabe des Le Monde Diplomatique schreibt, Nationalsozialismus und Kommunismus auf dieselbe Stufe gestellt. „Das Münchner Abkommen von 1938 hingegen, mit dem Frankreich, Großbritannien und Iktalien Hitler erlaubten, in die Tschechoslowakei einzufallen, kommt in der Ausstellung nicht vor, der Krieg beginnt hier mit dem Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion im August 1939. Die für den Kriegsverlauf entscheidende Schlacht von Stalingrad taucht nicht auf, so wenig wie der kommunistische Widerstand gegen die Nazis. „Kein Wunder, gehörte dem Historikergremium, und zwar als einzige Person, die vom Konzept bis zur Eröffnung des Museums an allen Etappen beteiligt war, doch die Ungarin Märia Schmidt an, eine Geschichtsprofessorin und Holocaust-Revisionistin, die — wie Le Monde 2018 schrieb — „manche Ungarn für noch ideologischer halten als Viktor Orbän, dessen Beraterin sie von 1998 bis 2002 war, und die eine der zentralen Figuren der ‚illiberalen Demokratie‘ ist“. Nennen wir ein anderes Beispiel für Kalkül und Zynismus auf Kosten der historischen Wahrheit: Im Mai dieses Jahres hat der österreichische Nationalratsabgeordnete Martin Engelberg (ÖVP) den Boykott der diesjährigen Gedenkfeier in Mauthausen durch Regierungsvertreter seiner Partei damit begründet, dass diese Veranstaltung „parteipolitisch missbraucht“ werde. Es falle ihm „schwer zu unterscheiden, ob das eine Erste-Mai-Feier ist oder die Befreiungsfeier eines Konzentrationslagers“. Ihn würden auch rote Fahnen von Antifaschisten stören, und deshalb habe er seiner Parteispitze geraten, auf die Teilnahme zu verzichten. Abgesehen davon, dass die wahren Beweggründe dieser skandalösen Entscheidung darin liegen, das kollektive Gedenken an die im KZ Geschundenen und Ermordeten sukzessive durch symbolische Gesten staatstragender Institutionen unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu ersetzen, sollte Engelberg eigentlich wissen, dass in Mauthausen zehntausende Kommunisten und Sozialisten umgekommen sind, rote Fahnen also durchaus angebracht sind, wenn man sie ehren will, und dass der Erste Mai ohnehin auch ein Tag des Gedenkens ist, nämlich an die durch Polizeiterror und Justizmord ums Leben gekommenen Arbeiter am Haymarket von Chicago, anno 1886. Ungefähr zur selben Zeit, in der Engelberg seine krausen Ansichten von sich gab, wurde auf dem Dach des Bundeskanzleramtes und des Außenministeriums in Wien die israelische Fahne gehisst, zum Zeichen dafür, dass sich die österreichische Regierung im innerstaatlichen Konflikt mit der Position der ultrarechten israelischen Regierung — damals noch unter Benjamin Netanjahu — solidarisiert, wobei diese Art von Solidarität mit dem Stärkeren nicht als Erfüllung der historisch begründeten Verpflichtung anzusehen ist, für das Existenzrecht des Staates Israel einzutreten, sondern als Ausdruck von Kumpanei zwischen Politikern, die hier wie dort die eigenen Interessen über die der Allgemeinheit stellen. Wie es wirklich um die Erinnerungspolitik der Österreichischen Volkspartei bestellt ist, zeigt die Subventionspraxis der oberösterreichischen Landesregierung unter Landeshauptmann Thomas Stelzer. Diese hat trotz heftiger Proteste den „Landesdelegiertenconvent der pennalen und fachstudentischen Corporationen Oberösterreichs“ — d.i. der Dachverband von fünfzehn deutschnationalen Burschenschaften — über Jahre finanziell unterstützt, zuletzt, 2020, mit 110.000 Euro. Stelzer war auch nicht davon abzuhalten, Michael Grünling, den „Alten Herrn“ einer dieser rechtsextremen Burschenschaften, nämlich des „Eysn zu Steyr“, mit dem Ehrenzeichen für Verdienste um die oberösterreichische Jugend auszuzeichnen. „Eysn zu Steyr“ hatte zuvor den Chef der Identitären, Martin Sellner, zu einem Vortrag nach Steyr eingeladen. Auffällig war Stelzer, wie vor ihm sein Parteifreund Josef Pühringer, auch dadurch geworden, dass er nicht nur den Ehrenschutz über den alljährlichen Burschenbundball der nationalen waffentragenden Verbindungen übernommen, September 2021 7