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Universitätsabschluss, war 21 Jahre älter als die Kindergartenpädagogin aus preußischem Adel und damals Chefredakteur der sozialdemokratischen Tageszeitung „Vorwärts“ im böhmischen Reichenberg/Liberec. Mit seiner Broschüre Der Arbeiter und die Nation, die sich gegen den steigenden Nationalismus in der Sozialistischen Internationale wendete, hatte er international im sozialistischen Milieu reüssiert. Auch Lenin zählte zu den positiven Rezensenten. Anfang 1913 übersiedelten die Jungverheirateten nach Wien, engagierten sich während des Weltkrieges auf Seiten der Kriegsgegner_innen und wechselten 1919 von der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) in die kleine Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ). 1921 verlor der Chefredakteur des Zentralorgans „Rote Fahne“ und Mitglied des Parteivorstandes den innerparteilichen Kampf in der KPÖ gegen den „Putschismus“ und um mehr innerparteiliche Demokratie und geriet ins politische Abseits. Das bedeutete für die Strassers, inzwischen mit Sohn Peter und Tochter Lieselotte zur Familie geworden, auch eine existenzielle Notlage. In diesem Kontext erfolgte die rettende Einladung nach Moskau.’ Eine zentrale Frage, die mit dem Roman verbunden ist, ist sein auto/biographischer Gehalt. Isa Strasser distanziert sich zwar von diesem Ansinnen, stellt aber gleichzeitig die Verwobenheit von fiktionaler Literatur mit dem Entstehungskontext, den jeweiligen Zeitläufen ebenso wie den Erfahrungen der Autorin her. Das heißt, die Verflechtungen von Roman und Auto/Biographischem sperren sich der klaren Trennung. Derzeit reüssiert eine Strömung der Belletristik, die ganz bewusst mit dem „Reiz, mit Quellen zu erzählen“, arbeitet und zwar, äußerst erfolgreich.® Dieser Befund gilt auch für die fiktionale Aneignungsliteratur über die Stalin-Zeit,” wobei Isa Strassers Land ohne Schlaf als Vorläuferliteratur zu kategorisieren ist. Im Folgenden versuche ich Ereignisse beziehungsweise Erfahrungen aus dem Leben Isa (und Josef) Strassers, die ich bei meinen bisherigen Recherchen über sie auffinden konnte,'° in Korrespondenz mit den von ihr im Roman modellierten Figuren zu setzen. Dabei geht es weder um ‘die Wahrheit’ noch um Vollständigkeit. Anhand einiger Blitzlichter auf offensichtlich biographische Spuren, versuche ich den Zeitgeist verständlich zu machen, den Isa Strasser in Moskau eingesogen, sowie die Handlungs(spiel)räume auszuleuchten, die sie dort wahrgenommen hatte — was sie durch das Denken und Handeln ihrer Protagonistinnen und Protagonisten zu einer Literatur des Alltäglichen formte. Der Text umfasst rund 200 eng bedruckte Seiten und ist in zwanzig verschieden lange Kapitel strukturiert, von denen nur eines mehr als zwanzig Seiten umfasst. Die Romanhandlung beginnt im Frühling 1927, dem letzten Jahr der Strassers in Moskau. Rund drei Viertel des Romans spielen in diesen Monaten sowie Anfang 1928, der Rest sind Ausblicke in die 1930er Jahre. Eine Szene aus dem Jahr 1935 bildet den Abschluss. Die vorwiegend in Dialogform gestalteten Handlungen werden von rund zwei Dutzend Menschen, Kommunist_innen aus Westeuropa ebenso wie Russ_innen getragen — nicht alle sind Parteiganger_innen der Bolschewiki. Die deutsche Kommunistin Brigitte Fessel ist die weibliche, der deutsche Kommunist Peter Kruk die männliche Hauptperson — sie sind befreundet und am Beginn des Romans einig in der Kritik der Stalinisierung. Ohne Vorspiel führt Isa Strasser im ersten Kapitel in die Spannungsverhältnisse der damaligen Sowjetunion, die den Roman durchziehen: Im Feld des Politischen markiert das die eingeschränkte Meinungsfreiheit, die Schriften Leo Trotzkis zirkulieren 1927 bereits 14 ZWISCHENWELT klandestin; der Alltag wird durch die schwierigen Lebens- und Wohnverhältnissen geprägt; Liebe und Freundschaft sind durch Misstrauen gefährdet, wem gilt die Loyalität, der Partnerin, dem Partner oder der Partei? Isa Strassers Literatur des Alltäglichen produziert eine Stimmung von Angst und Beklemmung. Das herrschende soziale Misstrauen hatte bereits den Zeitgenossen Walter Benjamin irritiert, der von Ende 1926 bis Anfang 1927 zwei Monate die Sowjetunion bereiste und sogar bei Iheaterbesuchen „die allgemeine Vorsicht bei öffentlicher Meinungsäußerung“ feststellte.'' Als der von Strasser modellierte Peter Kruk eine Schrift Trotzkis verloren wähnt, bricht er in Schweiß aus, phantasiert, aus der Partei ausgeschlossen und von seiner Frau verlassen zu werden (21 f.). 1927 hatte die „gänzliche Preisgabe einer stets nur kiimmerlichen Parteidemokratie“ bereits voll eingesetzt, Oppositionelle wurden aus der KPDSU ausgeschlossen und verloren ihre existenzsichernden Arbeitsplätze und Wohnungen, Betriebsversammlungen wurden inszeniert und gesteuert, Menschen aufgrund von Denunziationen in den frühen Morgenstunden abgeholt, die Macht der Geheimpolizei GPU wuchs. Es folgten Deportationen in Zwangsarbeitslager, Bespitzelungen von Freund_innen und innerhalb von Familien. In diesem Strudel finden sich die Figuren des Romans wieder und versuchen ihre Handlungsmacht/agency nicht zu verlieren, indem sie gegensteuern, sich affırmativ verhalten oder treiben lassen — einerlei ob sie sich als trotzkistisch, stalinistisch oder anders definieren. All das thematisiert Strasser in kleinen, zum Teil packend geschriebenen Geschichten im Land ohne Schlaf — denn Schlaf fand man kaum in Sowjetrussland: „Es schlafen wenige dort, und die schlafen schlecht“ (119). Anhand der Motive von westeuropäischen Kommunist_innen in die frühe Sowjetunion zu emigrieren, gelingt es Isa Strasser, die Perspektiven und Hoffnungen dieser Akteur_innen als „unerfüllte Zukunft“ zu erkennen, als „mögliche Gegenwart, die nie gegenwärtig werden konnte“.!” Neben kommunistischen Kadern, die vor Gefängnisstrafen nach Sowjetrussland flohen, wie Peter Kruk, waren das einfache Leute, wie das Ehepaar Krause aus Berlin (72 £.), das für die „Sache“ Heimat und Heim verlassen hatten, denn Facharbeiter waren notwendig im neuen Staat; Brigitte Fessel hatten „nur ihre Illusionen“ hergetrieben (119) oder ihre Freundin Grete Mertens, die glaubte, eine „Mission“ erfüllen zu müssen, der aber die „Marke“ Anarchistin von Hamburg, wo sie eine Prostituiertengewerkschaft zu gründen versuchte, bis nach Moskau folgte (70) — zu ihrem Nachteil. Nachdem ihr der Job und die Wohnung gekündigt wurden, nahm sie sich — hoff nungs- und perspektivlos — das Leben (88 ff.). Ein Gutteil von Strassers Figuren arbeitet in der Profintern, die 1921 gegründete „Rote Gewerkschaftsinternationale“, in der auch sie selbst in der Frauenabteilung beschäftigt war.'? Peter Kruk und Brigitte Fessel mussten „täglich ein Dutzend Zeitungen lesen“, Exzerpte herstellen und Artikel schreiben. „Jetzt arbeite ich gerade an einer Broschüre über den Arbeiterinnenschutz“, erzählt Brigitte Fessel (72). Dies stimmt biographisch mit Isa Strassers Tätigkeit in der Profintern überein, wo sie zwei Broschüren publizierte: Arbeiterin und Gewerkschaft (1924) und Frauenarbeit und Rationalisierung (1927). Bei ersterer handelte es sich um eine gewerkschaftliche Propagandabroschüre, voll der zeitgenössischen kommunistischen Rhetorik gegen die „verbürgerlichte [sozialdemokratisch-reformistische G.H.] Führungsclique“, die zweite operierte mit Fakten und Zahlen. In letzterer gelingt Strasser die Verschränkung der Kategorien Klasse und Geschlecht mit Eth