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Keine Gewissheit, Hoffnung mehr. Wie hat er es geschafft? Er hielt es hinter den Zähnen, das Geratter des Maschinengewehrs im Ohr, gedämpfte Schreie, watteweich schreiten, geräuschlos... Schrieb Gedichte. Eines der Letzten, „Fragmente“: .. ich bin tausendmal anders ... Und nun steh’ ich vor meinen Bruchstiicken ... Alles ist nicht mehr. Wenn du mich liebst, errätst du, was verloren gegangen ist ... Hermann starb 1942 an TBC, zugezogen in Buchenwald. Ein getaufter, lutheranischer Atheist, zum zweiten Mal gefangen. Selbst ich vergesse mich, alle Tage vor und zuriick, bin am Leben, verloren. Bin unterwegs mit jenen Bruchstiicken. Grofstante Mitzi Aus dem Lager Gurs schreibt Großtante Mitzi durch den Stacheldraht: Lager Gurs, 1940 Ein anderer sinnloser Tag... Ein anderes leeres Blatt Fiel aus dem Buch unseres Leben. Und Ende März 1941 Oh, wie elend vergaß ich Die Bewegung des Frühlings In dem eisigen Kummer Dieses entsetzlichen Jahrs! Der Frühling bringt Mitzi nach Mexiko und Jahre später kehrt sie zurück nach Wien. Wir begegnen uns, als ich neun Jahre bin. Und noch einmal, als ich 19 bin, kurz vor ihrem Tod. Mama Blauschwarze, blutrote Seile fesseln uns... Ich kämpfe, meine zerknüllten Baby-Flügel reißen, sobald sie sich öffnen. „Mama, ein Monarchfalter hat sich auf meinen Finger gesetzt...“ Oh, unsere Picknicks im Wienerwald. Wolken von Hahnenfuß, Schmetterlingen, Wiesenlerchen, beschützendes Gras... So dringt es, was sie spricht, zu mir. „Aber Mama ...“ Sie beachtet mich nicht. Ich halte mich zurück. Halte mich bedeckt, scheinbar teilnahmslos. Es ist selten genug, dass sie ein Stück ihres Lebens enthüllt. „Mama, bin ich nicht deine Freude?“ Du zerstörst mich mit deinen Fragen, Tochter. Meine Brüste sprossen, meine erste Regel. Ich schleiche mich hinüber zu ihrem Schminktisch mit den Spiegelflügeln. Hmm, blauer oder grüner Lidschatten bei meiner Gesichtsfarbe? Hör sofort auf. Du wirst eitel. Wir können das nicht haben. Einkaufen, sagte sie, war sie. Krebsrot mache ich mich davon, lerne, mich in meinem Zimmer einzuschließen, weg zu sein. Sie schleudert mir entgegen: Du liebst mich nicht, ich bringe mich um. Dies ihr Dolch, wie ein Blitzschlag für mein Herz. Mama, du hast versucht und versucht, du sagst mir, das Geld habe nie gereicht, deine Mutter zu uns nach New York zu retten. Und dann, am Tag, als die Gestapo sie holen sollte, sie in die hageren, ausgehungerten Rippen zu treten, sie am feinen goldenen Haar zu zerren dorthin zu dem Waggon, wo nur Stehplatz vorgesehen war. Kein Essen, kein Wasser, nur ein Kübel für den Urin, die Scheiße und das Erbrochene. Stundenlang das Klick-Klack der Räder, Stöhnen und Schluchzen. Geschoben in die Gaskammer und in Mengeles Bäckerei. Mama: Sie verweigerte sich ihnen. Sie schluckte all das Barbiturat aus der hübschen Kristallflasche, auf der Veronal stand. Löschte ihr Leben aus. Dein Antlitz schwebte vor ihren ersterbenden Augen. „Nein Mama, du darfst das NICHT!“ Wann, zur Hölle, kann ich von hier weg? Wer kann ich sein, wenn ich heute Nacht ausgehe? Rosaroter Lippenstift, Lackpumps, mein erstes Rendezvous. Du wirst mich nicht vermissen, wenn ich tot bin. Mama scheeit es durch die zufallende Eingangstür. Sie lebte lang genug, den ganzen Kreis ihrer Albträume zu durchlaufen. Durch das Fenster in ihrem Schlafzimmer hörte sie — 90 und blind — das Dröhnen des Flugzeuges niedrig über dem Broadway an jenem strahlend blauen 11. September. Das klingt, wie beim Anschluss. .. ach Mitzi, das Grauen von einst aus mir ächzt. September 2021 21