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gene Schlacht hier in den Ebenen vor dem Karpatenvorland stattgefunden haben. Zwar hatte Roth das in Lödz stehende Hotel Savoy angeblich als Vorlage für seinen Roman vor Augen gehabt, aber die Soldatenheimkehrer im Roman, die aus der Gefangenschaft Entlassenen, die Gestrandeten, die Verzweifelten, die Heimatlosen — sie alle könnten genau hier am Ufer des Sans in den Elendsquartieren am Rande von Przemysls Innenstadt Zuflucht gesucht haben. Das imperiale Hotel steht in Joseph Roths Roman Pate für den österreichischen Kaiser bzw. für das ganze Imperium der Doppelmonarchie, das soeben untergegangen ist. Sprzedam steht auf vielen Schildern an den Fenstern geschrieben. Zu verkaufen. Auch hier oben, am beinahe höchsten Punkt der Stadt, stehen einige schäbige Schmuckkästchen. Wir gehen weiter den Schlosshügel hinauf, lassen das elitäre Gymnasium hinter uns. Weiter hinauf folgen wir der Basztowa Straße bis zum Schloss, vorbei an Kloster und Kirche der Karmeliter. Wir spüren, dass wir beäugt werden, auch wenn niemand zu schen ist auf den Straßen. Niemand kommt uns in den Gassen hier oben entgegen. Von der einst größten militärischen Festungsanlage Europas ist fast nichts mehr zu sehen auf den Hügeln um Przemysl. Nur einzelne Ruinenreste sind geblieben. Während des ersten Weltkriegs war die weitläufige Verteidigungsanlage hart umkämpft. 1854, nach der Krönung Kaiser Franz Josefs, wurde mit den Bauarbeiten an der militärischen Festung begonnen. Über 45 Kilometer erschloss sich der Verteidigungsring, als dieser 1914, zu Kriegsbeginn fertiggestellt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war die Anlage aber größtenteils schon veraltet, wurde den neuen Ansprüchen der Kriegsführung nicht mehr ganz gerecht. Im März 1915 verlor die Österreichisch-Ungarische Armee die Festung an die Russen. Es war eine verlustreiche Schlacht auf beiden Seiten. Die Verteidiger hatten die Festung größtenteils selbst gesprengt und tausende Pferde erschossen, bevor sie sich in russische Gefangenschaft übergaben. Mehr als 120.000 Soldaten sollen es insgesamt gewesen sein, die sich in die Hände der Russen begeben mussten. Nur zweieinhalb Monate später konnte die Habsburger-Armee mit Hilfe der Deutschen Truppen das Gebiet zurückerobern. Der Tod tausender Soldaten war umsonst gewesen. Das Bild der tausenden Pferdekadaver lässt mich nicht los. Wie hat man die Pferde entsorgt während der Kriegswirren? Aß man ihr Fleisch? Wurden die kostbaren Häute abgezogen und zu Leder gegerbt? Das Tempo gestaltet sich hier im Osten Europas von einer ungewohnten Seite. Es gibt kein Entrinnen. Auch kein Aufbäumen dagegen. Mit dieser ausgeprägten Adaptivität haben wir nicht gerechnet. Überrascht über uns selbst, aber dankbar, nehmen wir sie entgegen. Sobald Jacken und Mützen etwas angetrocknet sind, sich nicht mehr nass anfühlen, treten wir wieder hinaus auf die Plätze und Gassen, nehmen das Grau hin, die Nässe, die abermals in unsere Kleidung kriecht. Jenseits der Jagiellonska-Straße liegt der östliche Stadtteil mit dem Zug- und Busbahnhof. Das feudale Bahnhofsgebäude zeugt noch von der einst epochalen Zeit, die zur vorigen Jahrhundertwende im ehemaligen Galizien und Lodomerien für Aufschwung sorgte. Kürzlich wurde das großzügig angelegte Bahnhofsgebäude renoviert, die Fassade hebt sich frisch herausgeputzt von den umliegenden Häusern ab. Im Inneren des Gebäudes bleiben die Hallen und Übergänge aber funktionslos: leere Gänge, unmöblierte Zwischenhallen, kahle Wände. Absoluter Leerstand. Geräuschlos, wortlos, mit gesenkten Köpfen, schieben sich die Reisenden, die soeben aus der Ukraine kommend durchgeschleust werden, durch die gespenstisch kahlen Gänge. Die Grenzabfertigung beider Seiten erfolgte bereits während der Zugfahrt, bevor die Reisenden in Przemysl durch unzählige, umzäunte Bahnsteige, Unterführungen und Treppen gelotst, polnischen Boden betreten. Manch einer, so auch mein Reisebegleiter, wird später, bei der Rückreise aus der Ukraine im Wirrwarr der umzäunten Gänge und Unterführungen plötzlich verloren gehen. Viele Geschichten gäbe es zu erzählen, lustige Anekdoten über Begegnungen und Begebenheiten, die sich im ehemaligen Bahnhofsrestaurant zugetragen haben sollen. Auch Karl Emil Franzos hatte darüber berichtet in seinen sog. Culturbildern. Die großzügige Halle, in der sich früher das berühmte Bahnhofsrestaurant befand, wurde bislang keinem neuen Zweck zugeführt. Leer steht die Halle da, der neue Anstrich noch unbefleckt, der Stuck an der Decke weiß und rein. Helene Deutsch mag hier gespeist haben, auf den Zug nach Wien wartend. Die Psychoanalytikerin war im Dunstkreis Sigmund Freuds groß geworden. Hier, in der galizischen Provinzstadt, war sie unterhalb des Schlosshügels aufgewachsen. Am Bahnhof Przemysl endet das Schienennetz der europäischen Normalspur. Züge, die weiter nach Osten verkehren, werden ab hier auf der Breitspur weitergeführt. Von den politischen Wirren, Umstrukturierungen und ständigen Veränderungen, denen die gesamte Region im ehemaligen Galizien und Lodomerien durch zahlreiche Herrschaftswechsel und Kriege ausgesetzt war, zeugt auch das Schienennetz, das mehrmals von der zentraleuropäischen Normalspurbreite auf die russische Breitspurbreite wechselte, rückgängig gemacht, und schlussendlich wieder auf Breitspur umgebaut wurde. Nach der Machtübernahme durch das Kaiserreich Österreich-Ungarn, wurde das zuvor polnische Gebiet erstmals durch die Galizische Carl Ludwig-Bahn erschlossen. Endbahnhof der Carl Ludwig-Bahn war Lemberg. Nach dem ersten Weltkrieg gelangte die Bahn in den Besitz der polnischen Staatsbahnen, doch kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs 1939, mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen, wurde sie den Sowjetischen Eisenbahnen einverleibt und auf die russische Breitspur umgebaut. Bereits zwei Jahre später, 1941, nachdem deutsche Truppen in der Sowjetunion einmarschiert waren, wurde die Bahn abermals auf Normalspur zurückgebaut. Der letzte Spurwechsel erfolgte 1945, als die Zugstrecke abermals von der Sowjetunion in Besitz genommen und wieder auf die Breitspur umgespurt wurde. Als die Ukraine 1991 die eigenständige Republik ausrief, wechselte das Bahnnetz zu den Ukrainischen Bahnen. Die Breitspur, die sich über das gesamte ukrainische Gebiet erstreckte, blieb. Dieses Beispiel macht deutlich, wie vielen Veränderungen die Region ausgesetzt war: Politischen Veränderungen, ethnischen, infrastrukturellen, ideologischen. Es macht auch deutlich, dass ethnische Minderheiten, sowohl in Südostpolen, als auch in der Ukraine in der Gegenwart ebenso mit Konflikten zu kämpfen haben. Rund um den Papstbesuch (Papst Johannes Paul II) war es 1991 in Przemysl zu einem Eklat gekommen zwischen der ukrainischen Minderheit, die den griechisch-katholischen Ritus ausübt, und den römisch-katholischen Polen der Stadt. Der Papst hatte damals entschieden, die Karmeliterkirche für fünf Jahre den Ukrainern zu überlassen, bis diese eine eigene Kathedrale errichten würden. Den strenggläubigen Polen hatte das nicht gefallen, sie begehrten auf. Um den jahrhundertealten Streit zwischen beiden Kirchenparteien zu schlichten, übergab Papst Johannes Paul II der ukrainischen Minderheit schließlich auf Dauer die Garnisonskirche (St. Johannes Kathedrale). September 2021 29