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Lager im Exil — Berichte 1940 Erich Hackl Wider die Augenblicksgeschopfe Valentin Pollak und seine unveröffentlichten Erinnerungen Im Frühjahr 1938, vor und nach der Annexion Österreichs, verfate der sozialdemokratische Gymnasiallehrer, Schuldirektor und Volksbildner Valentin Pollak (1871-1948) seine Lebenserinnerungen. Er nahm das Manuskript mit dem Titel „Ein Leben in Wien“ ein Jahr später mit ins Exil, auf eine Reise, die ihn und seine Frau Alice (1872-1948) über Dänemark nach England führte. Dort wurde das Ehepaar von seiner älteren Tochter Ilse Barea-Kulcsar aufgenommen. In einer Sendung der BBC hat der spanische Schriftsteller Arturo Barea seinen Schwiegereltern einen berührenden Nachruf gehalten, in dem er gleichermaßen ihre Herzensgüte, ihre Bescheidenheit, ihren Wissensdurst und ihre Beliebtheit bei den britischen Nachbarn rühmte. Gleich zu Beginn seiner autobiografischen Aufzeichnungen, die bis heute nicht veröffentlicht worden sind, weist Pollak auf die „Normalität“ seines Lebenslaufes hin, der nicht durch Katastrophen unterbrochen worden sei, keine Abenteuer aufzuweisen habe, von Elend und Schande gleich weit entfernt sei wie von Glanz und Ruhm. Und so, meinte er, würde die amtliche Darstellung seines Lebens lauten: „1871 in Wiener Neustadt als Sohn eines Kaufmanns geboren, sehr bald mit den Eltern nach Wien übersiedelt, wo er Volksschule, Gymnasium und Universität besuchte und seinen Militärdienst ablegte. 1895 zum Doktor der Philosophie promoviert, 1898 Lehramtsprüfung aus Deutsch, Geschichte und Geographie. Beginn seiner Lehrtätigkeit Herbst 1897 an einem Wiener Gymnasium. Er war mit Ausnahme der Jahre 1900 bis 1902, wo er Lehrer in Triest war, immer an Wiener staatlichen Mittelschulen tätig. 1920 zum Gymnasialdirektor ernannt, trat er Herbst 1928 auf eigenes Ansuchen in den dauernden Ruhestand und wurde im nächsten Jahr durch den Hofratstitel ausgezeichnet. Außer an staatlichen Mittelschulen war er an privaten Wiener Mädchenmittelschulen beschäftigt, nahm eifrig am Volksbildungswesen teil, schrieb zahlreiche Artikel und Anzeigen in Fachzeitschriften und war Mitverfasser mehrerer stark verbreiteter Lehrbücher. Seit 1901 mit Alice, geb. von Zieglmayer verheiratet, Vater von drei Kindern.“ Ganz abgesehen davon, daß sein Lebensweg „vom Rande des Ghettos zum betitelten Staatspensionisten und von der Enge meiner Kinderstube zu der phantastischen Weite der Beziehungen meines Lebensabends“ in England führte, wo er als siebzigjähriger Aushilfslehrer an mehreren Grammar Schools Schüler wie Kollegen begeisterte und zahlreiche Aufsätze über Schriftsteller, das britische Bildungssystem, seine Erlebnisse bei Ausflügen in die österreichische Bergwelt schrieb; abgesehen davon also beeindruckt die Autobiografie durch die Aufrichtigkeit ihres Verfassers selbst dort, wo man diesem — etwa in seinem Bekenntnis zur deutschen Kulturnation, in seinen beinahe aggressiven Vorbehalten gegenüber allem, was er als Erscheinungsform des Ostjudentums ansieht, und in seiner unbedingten Forderung nach Assimilation — nicht folgen kann. Er zürnt mit sich selbst, weil er — als Direktor des Wasagymnasiums — machtlos war gegen 34 ZWISCHENWELT schlechte Lehrer; erkennt in dem von ihm verehrten Otto Bauer den Angehörigen einer Generation von Politikern, die in den „Ideen des Rechts und der Gerechtigkeit so stark verwurzelt sind, daß sie sie aus ihrem Denken und Handeln nicht ausschalten können“, beschreibt den autoritären Charakter seines Schwippschwagers Johann Schober, des berüchtigten Wiener Polizeipräsidenten und österreichischen Bundeskanzlers, sieht Hitlers Leistung darin, „daß er dem deutschen Bürgertum - nicht den Arbeitern — wieder eine Idee gegeben hat, die Gegenwartswert und Zukunftswert zugleich zu haben schien, so leer sie innerlich war“, und resigniert — nachdem er über viele Jahre an der Schwarzwaldschule Mädchen unterrichtet hat — angesichts der Überzahl an saturierten „Augenblicksgeschöpfen“, deren Ziel es sei, hübsch und schlank zu sein und sich zu unterhalten: „Erhaschen, was die Gegenwart bietet, nicht viel nach der Zukunft, noch weniger nach der Vergangenheit fragen, das schien die Losung.“ Bemerkenswert ist Valentin Pollaks Loyalität seinen Kindern gegenüber. Am wenigstens erfährt man über den Sohn Wilhelm (1905-1982), der im Exil seinen Namen auf William Henry Pernod geändert und in Sydney verstorben ist; etwas mehr über die jüngere Tochter Lotte Eskelund (1910-1995), die als Journalistin, Buchautorin und Übersetzerin in Dänemark bis heute unvergessen ist; am meisten über Ilse Barea-Kulcsar (1902-1973), die schon als Mittelschülerin am linken Rand der österreichischen Sozialdemokratie, später auch in der Kommunistischen Partei aktiv gewesen war und während des Spanischen Bürgerkriegs im belagerten Madrid in der Zensurstelle für die Auslandspresse gearbeitet hatte. 1965, acht Jahre nach dem Tod ihres Mannes, kehrte Ilse aus England nach Wien zurück, wo sie als Publizistin und Schulungsleiterin für die SPÖ und den ÖGB tätig war. Ihr Buch über Vienna: Legend and Reality (1966), ganz im Geiste ihres Vaters geschrieben, ist nie auf deutsch erschienen, ihr einziger Roman, Telefönica, wurde 1949 in siebzig Folgen in der Arbeiter-Zeitung abgedruckt. Erst in diesem Jahr ist er, herausgegeben von Georg Pichler, sowohl in Spanien als auch in Österreich (in der Edition Atelier) endlich auch in Buchform veröffentlicht worden. Im Nachlaß des Ehepaares Barea findet sich ein undatierter Leserbrief, den Valentin Pollak ein oder zwei Jahre nach der Befreiung aufgrund eines Artikels in einer britischen Zeitschrift über das „unbeschwerte Wien“ (Prater, Riesenrad, Schrammelmusik) geschrieben hat. „Ich hoffe, Wien wird wiedererstehen, kein unbeschwertes Wien, sondern eine Stadt, die vorbildliche Bauten für die Arbeiter errichtet hat, die wunderbare Bäder für sie geschaffen hat, die ihre Kinder zur Erholung aufs Land geschickt hat. Das ist das Wien, das bekannt gemacht werden sollte.“ In Pollaks unveröffentlichten Frinnerungen gibt es sich zu erkennen.