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denen Internierte ihre Gefangenschaft auf der Isle of Man als den schönsten Urlaub, den sie jemals hatten, priesen. Ich weiß nicht, ob diese Briefe und Interviews echt, und ob all diese Männer ehrlich waren. Doch gewiss gab es manche unter uns, die in Hutchinson Camp relativ glücklich waren: Sie waren in Sicherheit, zumindest für den Moment, vielleicht sicherer als in ihrem früheren Zuhause, sie waren vergleichsweise gut untergebracht und mit Essen versorgt, sie konnten sich waschen, im Garten oder auf den Wegen des Lagers spazieren, manchmal sogar eine größere Runde in der Umgebung des Lagers — bewacht von Soldaten — oder im Meer baden, sie hatten Zeitungen und Unterhaltung. Männer, die sich aus Freiheit nichts machten, die sich nicht an der Trennung von ihren Familien störten und die keine Privatsphäre brauchten, konnten tatsächlich nicht klagen und manchen von ihnen ging es sicherlich besser als zu Hause. Aber viele von uns belastete die Gefangenschaft ungemein und für viele zog die schreckliche Zeit in Warth Mills Konsequenzen nach sich. Ein Mann starb unmittelbar nach der Ankunft in Hutchinson Camp, ich kannte ihn nicht und erinnere mich auch nicht an seinen Namen. Möglicherweise hatte er ein schwaches Herz und die Belastungen in Warth Mills und die schlimme Nacht auf dem Schiff, der Marsch vom Kai zum Lager, auf dem uns die Soldaten etwas drängten, waren zu viel für ihn: Er kollabierte und verstarb kurze Zeit später. Ich frage mich, ob er gerettet werden hätte können, wenn ihm eine adäquate Behandlung zuteil geworden wäre, die jedoch nicht zur Verfügung stand. Einige Tage vor uns waren 400 Männer von Ascot ins Lager gekommen und ich traf viele Bekannte wieder. Es war ihnen viel besser ergangen als uns und sie waren alle schockiert über unser Aussehen und unsere Erzählungen. Sie hatten sich bereits alles eingeteilt und halfen uns dabei, uns im Lager einzurichten. Jedes einzelne Haus war mit einer Gruppe von zwanzig bis dreißig Männern belegt, mit eigener Küche, denn wir waren selbst für die Zubereitung unserer Mahlzeiten verantwortlich. Die Männer meiner alten Gruppe aus Warth Mills wollten zusammen bleiben, aber das war nicht möglich. Wir wurden von einem jungen Offizier in Gruppen eingeteilt, ohne Möglichkeit unsere Kameraden auszuwählen, sondern gemäß den Reihen, die wir beim Verlassen des Schiffs gebildet hatten. Lediglich für die orthodoxen Juden, die koscher essen wollten, wurde eine Ausnahme gemacht, sie erhielten separate Häuser, die anderen mussten dem Zufall vertrauen. Unsere Gruppe hatte nicht viel Glück bei dem uns zugeteilten Haus; es machte einen eher vernachlässigten Eindruck, es gab kein elektrisches Licht und die Küche war eine der übelsten. Manche der Männer waren aus meiner Gruppe in Warth Mills, andere kannte ich nicht. Wir waren alle über 40, ich war der Älteste und daher wurde ich gebeten, Vorsitzender, oder wie es in Hutchinson Camp genannt wurde, „housefather“ zu werden. Meine Aufgabe war nicht so einfach; ich musste entscheiden, wer von den Männern die Einzelzimmer beziehen sollte, manche von uns hatten kein Bett, sondern nur eine Matratze, es fehlten Decken, ein Koch und ein Gehilfe mussten gefunden werden, andere mussten das Haus sauber halten. Es wurde uns gesagt, dass diese Arbeiten nicht vom Militär, sondern mit dem Geld, das durch den Verkauf von Schweinefutter an die Bauern, das von der Kantine eingenommen wurde, bezahlt werden sollten. Dafür mussten wir alle in der Küche und beim Putzen der Häuser mithelfen, eine typische Pension für bescheidene Gäste. Wir besaßen ein relativ großes Speisezimmer; die anderen Räume waren Schlafzimmer für zwei bis vier Personen; ich und ein anderer alter Mann hatten Zimmer für uns alleine, die sehr klein waren, Dienstbotenkammern, deren Fenster auf einen engen und hässlichen Hinterhof gingen, aber dennoch waren wir froh darüber, alleine, in einem richtigen Bett schlafen zu können. Mein Bett war breit mit einer guten Matratze, aber einem sehr schlechten und schmutzigen „Polster“, kein Leintuch und zwei wenig wärmenden und nicht sehr sauberen Decken. Zudem waren eine Kommode, ein Waschtisch und ein Badezimmer vorhanden — die Wanne war verschmutzt und es gab kein warmes Wasser, aber wenigstens konnte man sich waschen! — und eine richtige Toilette — man konnte sich also wieder wie ein zivilisierter Mensch fühlen! Nach und nach konnten wir viele der fehlenden Dinge, Decken, Töpfe, usw., in den Geschäften kaufen, und da wir einen ausgezeichneten Koch hatten, Absolvent der Technischen Universität Wien, ein typischer Wiener, der viel Wert auf das Kochen legte, ging es uns wirklich nicht so schlecht. Manche der Häuser waren besser ausgestattet, hatten elektrisches Licht und sehr gute Badezimmer. Die Bewohner meines Hauses waren nahezu zu gleichen Teilen Deutsche und Österreicher und zwei waren Juden aus Osteuropa, es waren ganz gute Menschen; es gab eine gewisse Spannung zwischen Österreichern und Deutschen, aber wir kamen ganz gut miteinander aus und im Großen und Ganzen gesehen waren wir eine „glückliche Familie“ — so wie in den besten Familien gab es eben auch Auseinandersetzungen und Nörgelei. In den anderen Häusern, in denen alte und junge Männer zusammen lebten, gab es viel schlimmere Streits - und manchmal sogar Raufereien. Nach einigen Tagen trat ich als „housefather“ zurück und ein jüngerer Mann — der Jüngste von uns — wurde als mein Nachfolger gewählt. Ich war sehr glücklich, die Pflichten als „housefather“ los zu sein, vor allem den ganzen Bürokratismus, der mit diesem Amt einherging. Der Tagesablauf war nahezu derselbe wie in den anderen Lagern. Wir mussten relativ früh aufstehen, vor 7 Uhr; um 7 Uhr 30 war in den einzelnen Häusern Appell und der „housefather“ war dafür verantwortlich, dass alle Männer anwesend waren; das Haus musste geputzt, die Lebensmittelbehälter zu den Geschäften gebracht, das Abendessen zubereitet werden — am Nachmittag wurden die Lebensmittel für den nächsten Tag geholt, am späten Abend gab es einen zweiten Appell; um 10 Uhr war Nachtruhe und um 10 Uhr 15 mussten alle Lichter ausgelöscht sein. Listen um Listen wurden geschrieben, ich frage mich zu welchem Zweck, jeden Tag mussten sich die „housefathers“ beim Kommandanten einfinden, um seine Weisungen entgegenzunehmen, es gefiel ihm, sie und auch uns alle zu versammeln. Er war ein guter und offener Mann, er hielt sich nicht zurück, wenn er seine Überzeugung kundtat, dass die Internierung von Flüchtlingen unnötig sei und dass „viele“ von uns freigelassen werden sollten, in erster Linie „die Alten und Schwachen“, und wenn er sagte, dass er uns zu einer „glücklichen Familie“ machen wolle, meinte er das zweifellos aufrichtig. Aber er verstand nicht, dass für viele von uns die Untätigkeit das wahre Problem war, vor allem die geistige Untätigkeit; er dachte, dass wir mit Minigolf spielen auf der Wiese — ein Fußballplatz wurde versprochen, aber bis zu meiner Entlassung nicht realisiert — mit Spaziergängen und Baden zufrieden wären. Ich weiß nicht, ob der große Saal für Vorträge, die Lese- und Arbeitszimmer, die manche von uns so sehnsüchtig erhofften, letztendlich eingerichtet wurden. Der Mangel an Privatsphäre machte vielen Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern im Lager schwer zu schaffen — und ich befürchte, dass dies im Winter und in Zeiten mit vielen Regentagen noch viel schlimmer September 2021 39