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In diesem Moment werden andere Städte von anderen Menschen zerstört, andere Bevölkerungen warten atemlos, dass diese Prüfung endet... Es gibt Entwarnung. Wie haben sie das heute so schnell erledigt? Die Leute beeilen sich ans Licht zu kommen und keuchen dabei. Aber ein Soldat steigt die enge Stiege hinunter und alle treten zur Seite, damit er vorbeigehen kann. Er ist weiß vom Staub mit einem dunklen, angespanntem Gesicht. Von Luftschutzraum zu Luftschutzraum sucht er irgendeinen seiner Angehörigen. — Was ist draußen passiert? — Nichts steht mehr. Der Atem der Menge stockt. Sie drängt sich hektisch hinauf. Der Eingang ist fast völlig von Steinen, Holz und Erde blockiert. Das haben wir genau auf den Kopf gekriegt. Der ganze Vorhof aufgegraben, die Ecke des Haupttors eingestürzt. Wenn all diese Bomben, die all die Erde in der Nähe aufgewühlt haben, um nur einen Zentimeter näher gefallen wären, dann wäre der Palast jetzt Staub und wir reichlich mit Erdreich garnierte Fleischstücke. Der Staub und der Rauch machen uns blind. Wir steigen in die Bombenkrater hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf. Die Gitter stecken verbogen in der Erde. Die Albertina neigt sich zu einer Seite, die kleine weiße Statue im Garten hat keinen Kopf mehr, nur die Hände mit einem offenen Buch sind geblieben. Ein kopfloser Dichter. Aber woher kommt dieser dichte Rauch? In Wirklichkeit sind wir noch immer sprachlos, überrascht, dass wir leben. Unsere Augen brennen von der Asche und dem Rauch, der umso dichter wird, je weiter wir gehen. Man hört Stimmen: — Die Oper steht in Flammen... Die Oper steht in Flammen! Das Knistern des Feuers ist schon deutlich zu hören: Trak, Trak. Es überlagert die Rufe, das Laufen der Menschen. Wir machen eine Runde, weil der Ring durch die Feuerwehr blockiert ist; graue Schatten, die mitten in der Dunkelheit kämpfen, die den ganzen Platz vor der Oper bedeckt hat, auch wenn es gerade ein Uhr Mittag ist. Ein Feuermeer vom Operncafe bis zur Kärntnerstraße, bis hinein in das Herz der Altstadt. Wir drängen uns in die Menge, die stumm schaut. Die Gesichter heben sich ganz weiß von dem grauen Staub ab, der alles bedeckt. Wir schen das Dach mit der runden Kuppel der Firma, wo wir jetzt sein sollten, mit Krach einstürzen, zerfressen vom Feuer. Die Menschen saugen mit Verzweiflung den unerwarteten Anblick in sich auf; die Flammen schlucken wütend die Oper, den Stolz Wiens, den Stolz Europas. Von überall laufen die Leute herbei, um zu sehen und sich zu vergewissern, dass es wahr ist. Aber sobald sie die Flammen sehen, die vom Dach hervor züngeln, entweicht ein nicht zu unterdrückender Schmerzensschrei aus allen Mündern. Ich fühle unerträglichen Kummer beim Anblick der Katastrophe. Aber plötzlich kommt ein hartes, raues, verächtliches Gefühl diesen Menschen gegenüber in mir hoch, die unfähig sind, sich selbst zu helfen, sich und ihre Heimat zu retten. — Weint um euer Wien, Wiener, weint nur, flüstere ich. Die Flammen, immer riesiger, pfeifen, brausen und erheben sich zu einem verrückten, makaberen Tanz. Wie schade, dass so viel Feuer ungenutzt bleibt. Wie viele Leute, die den ganzen Tag herumlaufen, um ein Bündel Holz zu sammeln, könnten ihr Essen damit kochen, sich daran erwärmen? Ein Mann neben mir sagt zu einer Frau: — Erinnert dich das nicht an den Fackelzug vor sieben Jahren, als die Deutschen einmarschierten? Die Frau presst ihre Hände auf die Augen. Seine Stimme ist voller Verbitterung und Müdigkeit. Frauen, Männer, Kinder laufen keuchend aus allen Straßen heran mit starren Blicken: — Die Oper ... Die Oper! Tränen fließen auf den staubigen Wangen, Lippen bewegen sich, flüstern zusammenhanglose Worte. Herren mit weißem Haar ziehen den Hut und grüßen das Österreich, welches verloren gegangen ist. Ein Schluchzer schwillt in meiner Brust. Auf einmal sehe ich die Oper als etwas Lebendiges, das stöhnt, leidet und kämpft, um erlöst zu werden, und es nicht kann. Ein Schauder erfasst mich. Ich dränge gegen die Menschenherde, die magnetisiert mit gereckten Hälsen da steht und mit Augen voller Tränen die rotblauen Flammen anschaut. Ich will weg. Jolanda Terenzio (auch Yolanda) kam 1922 in Athen zur Welt. Sie war die Tochter der Athener Schauspielerin, Lyrikerin und Frauenrechtlerin Julia Ambela-Terenzio. Ihr Vater, Antonis Terenzio, war ein österreichischer Geschäftsmann, dessen Vater schon für den österreichischen Lloyd im östlichen Mittelmeer unterwegs war. Nach Abschluss der Deutschen Schule in Athen fing Jolanda Terenzio ein Jus-Studium an, das sie jedoch vorzeitig 1940 abbrechen musste. Nach einer Widerstandsaktion gegen die Deutschen wurde sie mit 43 anderen am 10. Juni 1944 verhaftet. Dank ihrer österreichischen Herkunft und ihrer Deutschkenntnisse wurde sie nicht gleich deportiert oder ermordet, sondern als Zwangsarbeiterin nach Wien verschickt. 19 Tage lang war sie mit 300 anderen GriechInnen nach Wien unterwegs. 413 Tage dauerte die Gefangenschaft, bis sie in Wien von der Roten Armee befreit wurde. 413 Tage lang schreibt sie ihre Beobachtung nieder. Im August 1945 kehrte sie mit 3.000 GriechInnen aus Österreich nach Athen zurück. Sie studierte bis 1949 Englisch und Französisch. Danach studierte sie Französisch und Journalismus an der Universität Nizza und der Sorbonne. Sie kehrte nach Athen zurück und arbeitete für die Zeitungen der „Lambrakis Press Group‘, des linksliberalen Medienmoguls Christos Lambrakis. 1958 erschien „413 Tage“ in französischer Übersetzung. Sie wurde von der BBC engagiert und arbeitete bis zu ihrem Exil im November 1967 in Athen. Danach lebte und arbeitete sie in London, wo sie die „griechische Stimme“ der BBC wurde. Nach dem Sturz der Militärdiktatur kehrte sie nach Griechenland zurück und arbeitete für das Fernsehen und Radio. 1981 erschien „413 Tage“ auf Griechisch. 2002 forderte sie mit 170 anderen GriechInnen, die als ZwangsarbeiterInnen nach Österreich deportiert worden waren, eine Entschädigung für die Zeit als Zwangsarbeiterin. Diese erhielt sie tatsächlich, mit 50 anderen der 170, vom Österreichischen Versöhnungsfonds. Als Fabriksarbeiterin dürfte die Höhe der einmaligen Zahlung bei 2.543,55 Euro gelegen sein. Die Forderungen auf Entschädigung wurden auch an Deutschland gestellt. Dort anerkannte man zwar ihren Status als ehemalige Zwangsarbeiterin, doch ein Zahlung, wenn auch nur eine symbolische, gab es nicht. Neben unzähligen Artikeln und Reportagen publizierte sie nur wenige Bücher. Ihr letztes erschien im Jahr 2000 und fasste die Reportagen für die BBC über berühmte griechische KünstlerInnen zusammen. In diesem Buch setzte sie ihrer Mutter ein Denkmal. Jolanda Terenzio erhielt für ihr Lebenswerk etliche Auszeichnungen und verstarb 2006 in Athen. AE September 2021 53