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genannten Sprachkenntnisse auszukommen und an ihre Stelle ein Gelehrtengriechisch zu setzen, sondern mehr noch: an Jesus eine Entjudaisierung vorzunehmen. Shmuley Boteach dazu: „Yet he’s been stolen from our community, stripped of his Jewishness, and in large measure made an enemy of his people.“!? Das war Werk pagan-christlicher Gelehrter, das bis heute hingenommen und bekraftigt wird und den christlichen Analphabetismus hinsichtlich jüdischer Wirklichkeit nach wie vor brandgefährlich macht. Hier wird der harte Kern des christlichen Judenhasses erkennbar, in der Christuslehre, die ohne jeden jüdischen Bezug erstellt wurde und — noch schwerer wiegend — zeitgenössisch bekräftigt bleibt. Durch den griechisch erdachten Christus bleibt der jüdische Jesus verdeckt, auf den man in christlich-jüdischen Dialogen gerne verweist, doch nur solange es dem Christentum um keine Basisgeltungen geht. 4. Die Insistenz auf dieser unfehlbaren Lehre als Maß des Christlichen boykottiert im Zentrum des Christentums jede christliche Ansage einer Aufhebung oder einer Beseitigung seines antijüdischen Affekts. Hier möchte ich Katja Rainer um einen Gedanken erweitern: Die Scham als Voraussetzung echter Reue entfällt, weil sie angesichts der gehorsamsgebundenen Affirmation solcher Lehre nicht aufkommen kann und nicht aufkommen darf. Vor dieser absolut gesetzten Lehre gilt die Scham als Indiz der Unwahrheit, der Häresie. Dagegen forciert diese Lehre eine Christentumsapologetik, die unmittelbar in den Legitimationssog vergangener antisemitischen Verbrechen gerät und künftige nicht ausschließen wird. Das ist der furchtbare Schatten, auf den Katja Rainers doppelter Imperativ zielt, der jedoch von ihm wie von einem schwarzen Loch angezogen und annulliert wird. Ohne die Scham erwächst kein Mut, beides jedoch ist dem dogmatischen Gehorsamssystem inkommensurabel. 5. Stefan Zweig hat im Jahr 1922 die Legende Die Augen des Ewigen Bruders geschrieben. Die Augen des unwissend getöteten Bruders verfolgen dessen Mörder — eine Tragödie. Davon unterscheidet sich der christliche Judenhass, denn er ist keine Tragödie der Unwissenheit, sondern eine von weither entwickelte, bewusste Haltung, die über antijüdische Traktate ab dem 2. Jhdt. zur von allem Jüdischen gesäuberten Christuslehre und von da in die niemals endenden Verfolgungen von Juden und Jüdinnen aus christlichem Antrieb geführt hat. Doch wenn man nicht nur von „Gottes Augapfel“ schriebe und ein paar teils in der Vergangenheit liegende „Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz“'* suchte, sondern einmal den Augen des verfolgten Bruders, der verfolgten Schwester (wenn man sich diese Metapher nach all dem, was angerichtet wurde, als Christ überhaupt noch erlauben darf) ein wenig standhielte und in ihnen den Imperativ erkennt, von dem Rainer schreibt und der Emanuel Lévinas zu seiner imperativischen Philosophie des Antlitzes gebracht hat, das mich ethisch bezwingt, dann stiinde es um die Scham hinsichtlich dessen anders, was man so theologisch-lehrhaft treibt. Man fände zum Mut echter Abkehr von diesen Lehrmotiven, desavouiert durch die Geschichte, die Juden und Jüdinnen unter diesen Vorgaben durchmachten und den christlich gekündeten Retter Israels so gründlich aus der Geschichte entfernte, wie sein Judensein liquidiert bleibt. Was mich betrifft, so haben mich Begegnungen mit Juden und Jüdinnen vor schlimmen Kollaborationen mit den ergebenen Gehorsamskräften bewahrt. Antisemitisches richtet(e) sich dann und wann gegen meine Person, durchgängig als Denunziation. Das erhärtet nochmals, dass der Antisemitismus sein Feindobjekt stets erfindet und als Jude identifiziert. Doch das be- und verhindert eine abschließende Arbeit nicht, die sich seit einigen Jahren auf den Glutkern des christlichen Judenhasses richtet, auf die dogmatische Deutung Jesu Christi, und ihm einen Gegenentwurf setzen wird. Sein Prinzip: Kein einziger Satz darf jüdische Gemeinschaf ten delegitimieren, degradieren, gefährden. Ob das durchzuhalten ist in diesem Setting, bleibt fraglich, die atmosphärischen Kräfte hoffe ich nicht zu unterschätzen. Dennoch sind die Voraussetzungen halbwegs gut: Ich schäme mich für das, was auf dem Weg zur Erklärung der Fakultät hinsichtlich der Geserah 1421” aufgekommen ist und atmosphärisch im Text offenbar noch durchscheint; doch man hat mich vor einigen Jahren ohne Nachfrage oder Information im Institutsgebäude der Fakultät in ein Hinterzimmer unmittelbar neben der Toilette gesetzt, wo ich ungestört arbeiten kann, weil sich dorthin niemand verirrt oder en passent vorbeikommt. Und ich hoffe, in absehbarer Zeit meine Forschungen zu diesem Ihema abschließen und publizieren zu können - das letzte und wahrscheinlich entscheidende Vorhaben meiner universitären Zeit. Wolfgang Treitler, geb. 1961, ist seit 1998 ao. Prof. für Theologische Grundlagenforschung (Fundamentaltheologie) an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem: Messiasfrage; christlicher Antijudaismus; Literatur der Shoa; sexueller Missbrauch. Er ist Vizedekan der Katholisch-Theologischen Fakultät. Anmerkungen 1 Katja Rainer: 600 Jahre Geserah 1421 am 14.3.2021. In: ZW Nr.12/2021 34. 2 Gesera-Gedenken (3) — Differenzen bei historischer Einordnung, online: https://www.kathpress.at/site/webmeldung_detail.siteswift?ts=1629876305 (Abfrage 25.8.2021). 3 Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Herausgegeben von Eberhard Bethge, Gütersloh 21983, 15f. 4 Kurt Krenn: Hirtenbrief zur Fastenzeit 2001. Teil I, online: https:// bischof-krenn.stjosef.at/index.htm’fastenhirtenbrief 2001.htm-mainFrame (25.8.2021). 5 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Politische Fragmente, Frankfurt/M. 1998, 217. 6 Josef Thonhauser: Der Ewige Antisemitismus. In: ZW Nr. 1-2/2019 24. 7 Vgl. dazu die Studie: David Nirenberg: Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, München 2015. 8 Avoth V, 19. 9 Daniel Boyarin: Border Lines. The Partition of Judaeo-Christianity, Philadelphia 2004, 164; Thomas Fornet-Ponse: Okumene in drei Dimensionen. Jüdische Anstöße für die innerchristliche Okumene, Miinster 2011, 299. 10 Richard E. Rubenstein: When Jesus Became God. The Struggle to Define Christianity during the Last Days of Rome, Orlando u.a. 1999, 110. 11 Eusebius: Ausgewahlte Schriften Band H: Kirchengeschichte. Aus dem Griechischen iibersetzt von Phil. Hauser, Miinchen 1932, 27, 51, 66, 118f, 190. 12 Klaus Heinrich: Wie eine Religion der anderen die Wahrheit wegnimmt. Notizen über das Unbehagen bei der Lektüre des Johannes-Evangeliums, in: ZRGG Nr. 4/1997, 348. 13 Ebd., 197. 14 Jan-Heiner Tiick: Gottes Augapfel. Bruchstiicke zu einer Theologie nach Auschwitz, Freiburg-Basel-Wien 2016. 15 Statement der Katholisch-Iheologischen Fakultät der Universität Wien zur Wiener Gesera 1420/1421, online: https://ktf.univie.ac.at/hleadmin/user_upload/f_ktf/2021/Dateien_zum Download/Statement_KTF Wiener_Gesera.pdf (25.8.2021). November 2021 7