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Walter Thaler Widerstand und Selbstaufopferung Das Martyrium meiner Mutter in Zeiten des Krieges Die historische Forschung orientiert sich an den harten Fakten von schriftlichen Quellen. Die überwiegende Anzahl der Menschen hinterlässt aber keine solchen Belege. Damit laufen Lebenswelten und deren Sichtweisen Gefahr, für die Nachwelt nicht erhalten zu werden und daher nicht mehr zugänglich zu sein. Über den Zweiten Weltkrieg und seine politische, geistesgeschichtliche und wirtschaftliche Vorgeschichte gibt es ganze Bibliotheken, nicht in ausreichendem Maße aber über die Lebenswelten von Abermillionen von Frauen und Müttern, die im Krieg um das Leben und die Rückkehr ihrer Männer/Väter/Söhne bangen mussten. Dabei setzt sich die Geschichte doch als Konglomerat von sehr individuellen Ereignissen und Erlebnissen zusammen. Die historiographisch-soziologische Forschung bedient sich daher seit einigen Jahrzehnten der Methode der „Oral history“, also der Auf zeichnung subjektiver Erinnerung von Menschen in Interviews. In den letzten acht Jahren habe ich im Sinne eines sozialgeschichtlichen Ansatzes in vier sehr umfangreichen Büchern etwa 220 Lebens- und Leidenswege bedeutender Menschen, von Künstlern, Schriftstellern, bedeutenden Managern, HeldInnen des Widerstandes, Politkriminellen und Narren und Närrinnen, also ein Panoptikum menschlicher Charaktere aus fünf Jahrhunderten beschrieben. Da gestaltete ich auch die Schicksale von Frauen, die des kollektiven Gedächtnisses nicht wert befunden worden sind, aber durch ihren persönlichen Leidensweg in der Erinnerung einen festen Platz haben sollten. Am Ende meines achten Lebensjahrzehnts habe ich nun jene Erzählungen meiner Mutter Katharina Thaler (geboren am 20.2.1915), mit denen sie mich nicht nur als Kind und Jugendlichen, sondern Zeit meines Lebens immer wieder sehr berührt hat, und meine späteren Nachforschungen darüber nun als Oral History Dokument aufgeschrieben. Ihr Leben erscheint mir exemplarisch zu sein für die Schicksale von Millionen Frauen Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Meine Mutter war meine erste und zweifellos meine beste Geschichtslehrerin. Diese Behauptung erscheint erklärungsbedürftig, hatte die einfache Frau doch nur sieben Klassen Volksschule besucht und damit von der überlieferten Weltgeschichte so gut wie nichts erfahren. Für sie war Geschichte nicht der Bericht politischer Umwälzungen, von Pharaonen, Staatsmännern, KaiserInnen und KönigInnen und deren großen Heldentaten, auch nicht von deren Kriegen, Siegen und Niederlagen. Auch von großen Erfindungen, die das Leben der Menschen allmählich erleichtert haben, hatte sie in der Schule nichts erfahren. Ebenso nichts von Seuchen wie der Pest oder von Hungersnöten der Vergangenheit. Sie war aber — wie viele Menschen ihrer Zeit — deshalb „nicht aus der Welt“, ganz im Gegenteil, sie war mittendrin im historischen Sturm des 20. Jahrhunderts. Geschichte war für sie die eigene Lebensgeschichte, die eine Leidensgeschichte war. Weil sie im zweiten Jahr des Ersten Weltkrieges geboren wurde, hat sie ihre Kindheit und Jugend und auch ihr Leben als „Frau im besten Alter“ nie genießen können. Von ihr habe ich gelernt, dass die Geschichte der Menschheit immer die Geschichte von Individuen ist und dass vor allem die einfachen Menschen die Last der Geschichte zu tragen haben. Die Leidensgeschichte meiner Mutter begann, als sie fünf Jahre 8 _ ZWISCHENWELT alt war. Denn da starb ihre Mutter bei der Geburt des sechsten Kindes, das auch nicht überlebte. Da ihr Vater ein herumziehender Handwerker war, der Reparaturarbeiten auf den Bauernhöfen des Pinzgaus durchführte, wurden die fünf Kinder zu verschiedenen Bauern im Unterpinzgau ausgestiftet. „Ausstiften“ bedeutete, dass sie dort in Pflege gegeben wurden. Von einer echten Pflege konnte aber keine Rede sein, denn man behielt diese Kinder in der Absicht, später dann dankbare und vor allem billige Knechte und Mägde am Hofe zu haben. Was sie mir erzählte, konnte ich als Kind nicht glauben und hielt es wohl für ein Erziehungsmittel, um mich mit meinen Wünschen klein zu halten. Denn die Wünsche des Kindes waren größer als es die Rente der „Kriegswitwe“ nach dem Zweiten Weltkrieg zuließ. Als ich zwei Jahrzehnte danach als Gymnasiallehrer vom Schriftsteller Franz Innerhofer, der gerade an seinem Roman „Schöne Tage“ arbeitete, erfuhr, dass es ihm ein halbes Jahrhundert später genauso ergangen war, war ich dann eines Besseren belehrt. Denn die ausgestifteten Kinder wurden als „Leerfresser“ (mundartlich: Laafresser) bezeichnet, so lange sie am Bauernhof keine ordentliche Arbeit im Stall oder auf dem Feld leisten konnten. Daher brachte es meine Mutter auch nur auf sieben Volksschulklassen im Unterpinzgauer Ort Taxenbach. Denn wenn die Heuernte einzubringen oder im Winter, wenn der Schulweg von Embach nach Taxenbach nicht begehbar war, gab es keinen Schulbesuch. Erst als sie später als Kellnerin und Stubenmädchen in einem Gasthof arbeitete oder danach in der Bäckerei Prem in St. Johann im Pongau tätig war, erhielt sie eine Abgeltung ihrer Arbeit und gelegentliche Freizeit. Dort im Bezirkshauptort lernte sie dann auch meinen Vater (geb. am 12.6.1912) kennen, und die beiden heirateten wenig später. Am 12. Juni 1937 wurde mein Bruder Johann (von den Eltern liebevoll Hansi genannt) geboren. Das Glück der jungen Familie dauerte allerdings nicht lange, denn Vater wurde als 27-jähriger kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges eingezogen und erlebte die Schrecken des Russlandfeldzuges vom Anfang bis zum bitteren Ende. Seine Familie sah er nur mehr bei Fronturlauben.