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Als ich die Volksschule in meiner Heimatgemeinde besuchte und dadurch in Kontakt mit vielen anderen Buben kam (die Schulklassen waren damals noch streng nach Geschlechtern getrennt), fragte ich meine Mutter immer wieder, warum ich denn keinen Vater wie meine Schulkollegen hatte. Ich kannte zwar sein Foto an der Wand in der bescheidenen Wohnküche, aber er war für mich und meine Schwester nicht vorhanden. Da erzählte sie, dass mein Vater noch immer nicht aus dem Krieg heimgekehrt war. Aus jenem Krieg, der sie mit ihren zwei Kindern immer wieder gezwungen hatte, in den Luftschutzkeller in St. Johann im Pongau (damals: Markt Pongau) zu flüchten, wenn die Sirenen heulten. Sie klagte darüber, dass mein Vater unter den Ersten im Orte im Herbst 1939 zu den Waffen gerufen worden war, wohl weil er nicht bereit gewesen war, sich den Nationalsozialisten anzuschließen. Dann fragte ich sie auch, warum neben dem Bild des Vaters auch ein Bild meines Bruders Hansi an der Wand hänge. Ob dieser auch noch im Kriege sei. Bei dieser Frage kamen ihr immer wieder die Tränen. Nein, Hansi lebe nicht mehr, er sei gestorben. Mit mehr Informationen wollte sie mich nicht quälen, weil ich diese ohnedies nicht verstanden hätte. Sie sagte nur, dass er im strengen Winter 1939/40 an einer Hirnhautentzündung erkrankt sei und wie durch ein Wunder überlebt habe. Er sei ein schr robustes Kind gewesen, aber er habe durch die Krankheit seinen Gehörsinn verloren und habe damit als taubstumm gegolten. Auch habe er an Gleichgewichtsstörungen gelitten. Dann sei er gestorben. Erst als ich die Oberstufe des Gymnasiums besuchte, gestand sie mir, dass man Hansi plötzlich am 25. August 1942 abgeholt und in eine Klinik nach Wien gebracht habe. Am 9. September sei er dort gestorben. Sie sagte dies in großer Traurigkeit, aber sie klagte niemanden an. Wohl, weil sie seit der Gewährung des aktiven und passiven Wahlrechtes für die ehemaligen Nationalsozialisten im Jahr 1949 noch immer fürchtete, dass das politische Pendel wieder zurückschlagen könnte. Denn immerhin war der chemalige Nazi-Bürgermeister Hans Kappacher als Kandidat der christlich-sozialen Partei ÖVP seit 1949 mit Hilfe des neu zugelassenen Verbandes der Unabhängigen (VdU) wieder zum Bürgermeister gewählt worden. Die tatsächlichen Umstände des Todes meines Bruders erfuhr ich erst viel, viel später. Bei einer Tagung „Vernichtung statt Betreuung. Die Euthanasie und ihre Vollstrecker auf dem Lande“ am 8.11.1998 im Schloss Goldegg hatte ich die Ehre, in meiner Eigenschaft als Zweiter Präsident des Salzburger Landtages die Landesregierung und den Landtag zu vertreten. Dabei ging ich kurz auf die Tragödie meines Bruders ein und betonte, dass es im ganzen Markt Pongau in der NS-Ära nur den Arzt Dr. Karl Schmall (ursprünglich ein Exponent der Vaterländischen Front) gab. Dieser führte schräg gegenüber unserer Wohnung in der Hauptstraße seine Ordination. Im ärztlichen Fragebogen des Hausfürsorgeverbandes Salzburg zur Begründung der Notwendigkeit von Anstaltspflege fehlt allerdings die Unterschrift. Der Amtsarzt für den Landkreis Bischofshofen, Dr. Stiegler, übersandte an die Klinik am Spiegelgrund den Sippenfragebogen (Schreiben v. 10.9.1942). Beide schenkten zweifellos den Anordnungen des Führers mehr Beachtung als ihrem einmal geleisteten Hippokratischen Eid. Nach der Veranstaltung sprach mich der Leiter des Dokumentationsarchives des Österreichischen Widerstandes, Dr. Wolfgang Neugebauer, an und fragte mich, ob ich die genauen Umstände des Todes meines Bruders kenne. Er versprach mir, sich bei der Klinik am Spiegelgrund (heute: Psychiatrische Klinik Baumgartner Höhe) um die Krankengeschichte zu bemühen. Kurz darauf erhielt ich den gesamten Krankenakt meines Bruders vom Ärztlichen Direktor der Klinik, Univ. Prof. Dr. Eberhard Gabriel, zugesandt. Aus diesem geht hervor, dass das fünfjährige Kind in der Zeit seines Klinikauf enthaltes keinen einzigen Tag Fieber hatte, erst am Todestag wies er eine Körpertemperatur von 37,4 Grad auf. Als behandelnde Ärzte werden Dr. Ernst Illing und Dr. Heinrich Gross angeführt. Dies alles hat meine Mutter nicht mehr erfahren. Daher auch nicht die Tatsache, dass in der Klinik am Spiegelgrund zwischen dem 25. August 1940 und dem 3. Juni 1945 (also auch noch nach Kriegsende!) nicht weniger als 789 Kinder, die wegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung als „Ballastexistenzen“ eingestuft wurden, getötet worden sind. Sie hat auch nicht erfahren, dass Hansi bei seiner Einlieferung 18 Kilo wog, an seinem Sterbetag aber nur mehr 13,4 Kilo. Dem Krankenakt liegt als erschütterndes Dokument auch ein Brief meines Vaters (in Kurrentschrift) bei, den dieser am 6. September 1942 an die Direktion der Klinik geschrieben hatte: „Wir sind sehr besorgt um Hansi, da ihm die momentane Umstellung sicher sehr schwer fallen wird“. Er ersucht um eine baldige Antwort, „dass wir auch mehr beruhigt leben, wenn wir den ersten Bescheid erhalten und ich in Kürze wieder an die Front abgehe“. Der Bescheid kam in Form der Sterbeurkunde vom 18.September 1942, in der als Todesursache des Kindes „Taubstummheit, Schwachsinn, Lungenentzündung“ (!!!) angeführt werden. Das direkte Kriegsgeschehen erlebte man in St. Johann im Pongau zwar erst in den letzten Monaten, als Flugzeuggeschwader der Alliierten über das Salzachtal zogen und gelegentlich auch Bomben abwarfen. Aber der Krieg war indirekt jeden Tag sichtbar, denn in diesem Pongauer Markt befand sich das größte Kriegsgefangenenlager in Westösterreich, das „STALAG XVII € Markt Pongau“, in dem bisweilen bis zu 30.000 Gefangene in Baracken und in GroßzelNovember 2021 9