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wuchs mein Vater von seinem zweiten bis zu seinem vierten Lebensjahr auf. Reisefieber wie Liebe zum Buch gaben mir wahrscheinlich Vater und Großvater mit. Vieles kann sogar durch die Gene vermittelt werden. Nachdem er die Hotelfachschule absolviert hatte, beschloss Vater, die Welt zu entdecken statt zu studieren, wie es bei Kindern aus der Mittelschicht üblich war, um „Sicherheiten“ zu haben und um „etwas zu werden“. Er war ein guter Schüler gewesen, doch wollte er keine Theorie mehr sondern andere Länder sehen. Im Nachhinein betrachtet, kann ich behaupten, dass er ein romantischer Jugendlicher war, der nach seinem Militärdienst vor allem Europa, Asien und Amerika bereiste. Zu seiner Zeit war der Militärdienst noch für jeden gesunden diensttauglichen Franzosen verpflichtend, vor allem wenn er aus einer Militärfamilie stammte. Vater hatte bereits drei große Interessen: Frauen, die Reisen und die Literatur. Letztere hatte er schon sehr früh für sich entdeckt. Während dieser Reisen kaufte und las er so viele Bücher, dass er immer wieder Koffer voll mit Büchern nach Hause schickte. Später sollte das auch mir öfters passieren. Französische Klassiker wie Balzac und Flaubert waren darunter, auch philosophische Perlen wie Michel de Montaigne oder die Selbstbetrachtungen von Marc Aurel, doch auch die Weltklassiker wurden nicht vernachlässigt: Tolstoi, Dickens, Cervantes, Shakespeare. Der damals gerade vorherrschende literarische Boom lateinamerikanischer Autoren wie Gabriel Garcia Marquez, Mario Vargas Llosa, Octavio Paz oder Carlos Fuentes steigerte sein Interesse für die „Neue Welt“. Er arbeitete auf Kreuzfahrtschiffen, aber auch für den saudi-arabischen Geschäftsmann Adnan Khashoggi als Teil seines Yachtteams. Er schien wahrlich den „magischen Realismus“ von Gabo, Carpentier, Asturias und Rulfo in sich aufzunehmen und in diesem aufzugehen. So gestaltete sich sein Leben, als er meine Mutter bei einem Spaziergang am kleinen „Zocalo“ von Acapulco kennenlernte und sich in sie verliebte. Meine Mutter heiratete mit 19 Jahren, er war nicht viel älter: 22. Schon bald zogen sie in die kleine Ortschaft Ambilly in Frankreich, an der Grenze zur Schweiz, wo mein Vater in einem Restaurant arbeitete. Für Carmen tat sich eine Welt auf, eine neue Kultur, eine unbekannte Sprache, andere Verhaltensnormen, ein anderes, nicht pikantes Essen, keine ewigen Sommertemperaturen mehr, sondern Kälte, Regen, Schnee. Meine introvertierte Mutter geriet in erste Krisen und Verstimmungen. Mein Vater war lange in der Arbeit und meine Mutter hatte keine Freunde oder Verwandten in der Nähe. Trotzdem wurde meine Schwester im Jahr 1983 in Ambilly geboren. „La francesita“ wie sie mein Opa nannte, lebte ihr erstes Jahr in Frankreich. Als meine Mutter mit mir schwanger wurde, beschloss sie, wieder nach Mexiko zurückzukehren. Sie fühlte sich in der Fremde nicht wohl und wollte wieder zurück zu ihrer Familie. Das Leben in der Großfamilie, mit den unzähligen Tanten und Onkeln, den nie endenden Feiern, dem sozialen Leben und dem viel leichter erträglichen Klima war für sie attraktiver. Sie wollte zurück in ihre familiäre Höhle, in ihre Zone des Komforts. Ich wurde am 1. April 1984 in Acapulco, im Südwesten Mexikos, geboren. Meine Mutter war ebenfalls in dieser berühmten Hafenstadt auf die Welt gekommen. Meine ersten Erinnerungsfragmente sind eine Melange aus Situationen und Emotionen. Ein Mann versucht meine Mutter zu küssen, ich bin vier und stelle mich dazwischen. Ich möchte es nicht zulassen. Er hatte mehr Erfolg als ich und gewann. Von da an sollte er mein Stiefvater werden. Charly, ein Graubündner, hatte in Mexiko gemäß dem damaligen Klischee über die Schweizer als Hotelier gearbeitet. Mit ihm zogen wir von Acapulco nach Cancün, damals einem kleinen Fischerort in der mexikanischen Karibik, in dem einige Jahre zuvor zu investieren begonnen worden war und der heute eine der weltweit begehrtesten touristischen Destinationen an der Riviera Maya darstellt. Zwei Jahre - einschließlich Hurrikan — sollte ich dort erleben. Der Kontakt zu meinem leiblichen Vater sollte immer weniger bis nicht existent werden. Damals wusste ich vieles noch nicht und konnte einiges nicht verstehen. Ich hatte nun einen Vater, der eine andere Sprache sprach und aus dem Land des „Käses“ kam. Schon bald sagte ich „Papa“ zu ihm und vergaß meinen anderen Vater. Da ich ziemlich jung war und schon viel durchgemacht hatte: Streitereien, die zahlreichen schon erwähnten Umzüge, wollte ich vermutlich etwas mehr Sicherheit. Doch dies war erst der Anfang. Ich hatte so meine Probleme mit dem Sprechen und der Sozialisation. Ich war sehr eifersüchtig auf meine Mutter und nur meine Schwester konnte mich verstehen. Ich sprach meine eigene Sprache, sie musste für mich übersetzen. Sie war nicht nur die, die oft mit mir spielte oder auf mich aufpasste, sondern buchstäblich meine Brücke zur Welt. Sie war 15 Monate älter und überlebenswichtig für mich, vor allem, als meinem Stiefvater das Arbeitsvisum nicht mehr verlängert wurde und es zu einen heftigen Streit zwischen ihm und meiner Mutter kam. Da lebten wir wieder getrennt voneinander — wir drei weiterhin zusammen und er alleine. Bald musste er auch das Land verlassen. Meine Mutter arbeitete, wie so viele alleinerziehende Mütter in Mexiko und weltweit, den Nachmittag und die Nacht durch, kam müde nach Hause und schlief den ganzen Morgen. Sie bekam keine Alimente für ihre beiden Kleinkinder. Meine Schwester und ich blieben allein zuhause zurück. Ich fühlte mich meiner Mutter immer schon sehr nahe und umarmte sie leidenschaftlich gerne. Obgleich ich schlief, merkte ich, als sie aufstand und zum „trabajo“ musste. So bin ich immer kurz aufgewacht, wenn sie gegangen ist. Schreien und Weinen war die Folge. Eine Tragödie. Ein Untergang für mich. Ich wusste nie, ob sie zurückkommt, und hatte immer das Gefühl, verlassen zu werden. Nach schönen wie nicht so schönen Momenten des Zusammenlebens waren wir nach Acapulco zurückgekehrt. Neben meinen Kommunikationsproblemen konnte ich auch einige Buchstaben nicht aussprechen. Doch nicht nur das, ich kaute auch an meinen Fingernägeln und war Bettnässer. Auf jeden Fall waren wir wieder im mütterlich-elterlichen Haus in der Colonia Hogar Moderno. Ja, modern war da wenig. Meine Großmutter kochte und erledigte mit einem indigenen Dienstmädchen die nötigen Einkäufe. Mein Großvater und meine Mutter arbeiteten lang und hart. Ein sehr junger Mann, ein Freund der Familie, sollte auf uns aufpassen. Dieser kam seiner eigentlichen Aufgabe aber nicht nach, sondern missbrauchte uns sexuell. Kein Wunder, dass ich ein geringes Selbstwertbewusstsein hatte und jeden Abend in mein Bett machte. Meine Erziehungsberechtigten hatten keine Ahnung davon. Mein Vater und meine Mutter waren gerade dabei, sich scheiden zu lassen. Ich besuchte die erste Volksschule und wollte ein großer, starker Mann werden. Ich wollte mich verteidigen können. So wie mein Onkel Angel, der Bodybuilder und Martial Arts Experte. Denn ich fühlte mich als eine kräftige Mischung aus Lion-O von den „Ihundercats“, Inspector Gadget und Rambo. Später, bereits in Europa, mit neun, wollte ich tatsächlich meinen Namen ändern lassen. Rambo sollte ich heißen. Er war in jeglicher Hinsicht stark. Dass er eigentlich John hieß, wusste ich nicht. Ich bat meine Mutter inständig, sie solle meinen Namen ändern lassen. „Wenn du 18 bist, kannst du das selbst November 2021 17