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machen“, antwortete sie. Mein Stiefvater und meine Mutter hatten sich wieder versöhnt und offenbar in einem langen Briefwechsel das „Kriegsbeil“ begraben. Schon bald fragte uns Mutter: „Rachel y Alex, ;quieren que nos vayamos a Austria?“ Wollt ihr nicht nach Österreich? Ich hatte keine Ahnung, was das für mich bedeuten würde. Dass ich meinen hart arbeitenden Großvater, den ich sehr mochte, nie wiedersehen würde, weil er bald sterben sollte. Dass ich eine neue Sprache erlernen, eine neue Kultur vorfinden und neue Freunde finden müsste. Dass es in Österreich keine „frijoles“ (Bohnen) und Tortillas gab. Mein neuer Vater, „el suizo hotelero“, wurde »Operations Manager“ eines internationalen Hotelkonzerns mit Hauptsitz in Wien und einer Niederlassung in Innsbruck. Im Unterschied zu seinen Eidgenossen wanderte er wie ich immer in Richtung der aufgehenden Sonne. Denn auch ich war von Mexiko nach Frankreich und jetzt in die Schweiz gelangt. Die nächste Station war „Österreich“. Ich wusste erst gar nicht, wo dieses „Austria“ lag, dessen Namen mich an Australien erinnerte. Terra incognita. Von Innsbruck hatte ich noch nie gehört. Dass Mozart und Zweig von hier stammten, erfuhr ich erst hinterher. „El frio“ — Kälte, aber auch soziale Kälte. Die Menschen waren hier anders. In Mexiko war ich zuhause, hier sollte ich ein „Ausländer“ werden. Obgleich ich sprachliche Probleme hatte, war die erste Klasse Volksschule schon positiv absolviert und lesen konnte ich schon lange. Nun beschlossen meine Eltern aber, dass es das Beste für mich sei, die Klasse zu wiederholen, da Deutsch eine neue, schwierige Sprache für mich sei und ich ja nicht einmal: „Wie geht's? Ich heiße Alejandro“, sagen konnte. Gedacht, getan. Doch, vielleicht aufgrund meiner bisherigen Biographie und der damit einhergehenden Passivität und Angst, konnte ich noch nicht Rad fahren oder das Alphabet auswendig aufsagen. Schwimmen, wie so viele andere Mexikaner, konnte ich auch nicht, obgleich ich aus einem touristischen Ort mit den weltweit schönsten Stränden und den berüchtigsten Klippenspringern kam. Und noch viele weitere Tätigkeiten, die ich wie das Ski fahren erst mit der Zeit erlernen sollte. Dafür konnte ich schon etwas kochen, da ich früh auf mich selbst aufpassen musste. Wenn mich meine Mitschüler nach meiner Herkunft fragten, antworte ich „Mejico“. Damit konnten sie nichts anfangen. Die eher Böswilligen unter ihnen dachten und nannten mich: „Türke“, was aus ihrem Munde wie ein Schimpfwort klang, andere gar „Scheiß Affe“, „Blöder Ausländer“ oder „Hey Neger“. Das gibt es heute noch, wie zu Beginn der 1990er, als ich nach Good Old Austria kam. In einer großen und doch wohlhabenden Gemeinde wie Rum, es war nicht die Millionenmetropole Mexiko Stadt, im Heiligen Land Tirol war es anscheinend unvorstellbar, andere zugezogene Mitbürger zu haben, die nicht aus Ex-Jugoslawien oder der Türkei stammten. Viele dieser Migranten, deren Vorfahren als Gastarbeiter nach Tirol gekommen waren, waren nun Österreicher zweiter Klasse. Das sollte auch ich werden. Für viele oder nur für einige, das ist hier die Frage. Doch da meine Hautpigmentierung etwas dunkler ist, wurde ich mit meinem zu Beginn gebrochenen und später akzentreichen Deutsch als „der Türke“ etikettiert. Meine Schwester hingegen, die eher nach meinem europäischen Vater geraten war, konnte äußerlich nicht wirklich als „Ausländerin“ identifiziert werden, sodass sie als „Jugo“ mit allen entsprechenden Implikationen in diese Gesellschaft eintrat. Sie war in einer rassistischen Hierarchie eine Stufe über mir. Sie wurde als weiß, Jugoslawin und ergo Europäerin betrachtet. Mir wurde als Türke oder Latino nicht so viel Ver18 _ ZWISCHENWELT trauen und Wärme entgegengebracht. Vieles hat sich in dieser nun noch stärker globalisierten Welt verändert und auch verbessert. Doch es wundert mich, wenn ich höre, es hätte zur Zeit meiner Ankunft keinen wirklichen Rassismus in Tirol gegeben, so wie es auch jetzt keinen gäbe. Doch nicht im Heiligen Land Tirol.... Tirol isch lei oans, wie die Kastelruther Spatzen singen... Aufgrund meiner Biographie hatte ich gelernt, „Migrant“, „Ausländer“, „Türke“, „Jugo“, „Neger“ oder „Marokkaner“ zu sein. Der Junge aus der Bananenrepublik. Ich besitze multiple Identitäten mit ihrem jeweiligen Reichtum, die ich in meiner „citadelle interieure“ wie der Dichter Pessoa es nennt, versammle und auch zu Wort kommen lasse. Ich versuche, hier und da ein Heim zu finden, mich hier wie dort zuhause zu fühlen. Es hängt von mir ab, für mich ist es eine bewusste Entscheidung. Überall und nirgends gleichzeitig. Die bewusste Suche nach meiner Identität begann. Vor allem ab der Pubertät wurde mir bewusst, dass ich ein Repertoire an Emotionen in mir versammelte. Einerseits fühlte ich mich doch nicht mehr entwurzelt, sondern auch hier in Österreich zu Hause, und andererseits sehnte ich mich melancholisch nach diesem Heimatgefühl mit den vielen Verwandten und schämte mich in der Öffentlichkeit, Spanisch zu sprechen. Zu viel Ausländerfeindliches hatte ich schon gehört. Ich wollte nicht wieder ausgelacht oder angegriffen werden. Doch das Reisen begann mir erst später zu gefallen. Es wundert mich nicht, dass es eines meiner Lebensziele ist, die ganze Welt zu bereisen. Geographisch bin ich weit herumgekommen, 86 Länder wurden schon auf bescheidene Weise intensiv besucht. Es bleiben 108. Literarisch gereist bin ich schon weiter als Ibn Battuta und Marco Polo. Verne, London, Melville, Stevenson, May, Herodot, John Muir, Kapuscinski, Terzani und all meine geistigen Freunde begleiteten mich schon seit meiner Jugend. Das Resultat: „Citoyen du monde“. Ich bin und fühle mich als „Weltenbürger“. Doch noch möchte ich einige Mauern niederreißen und interkulturelle Brücken bauen, die es mir ermöglichen, nicht nur zu überleben, sondern auch schöpferisch zu gestalten. Das Reisen ist das Allernatürlichste. Die gesamte Menschheit war und ist eine Geschichte der Migration. Selbst die vier heiligen Freiheiten des Kapitalismus in der EU deuten auf Migration: der freie Kapital-, Personen-, Dienstleistungs- und Warenverkehr. Obgleich der freie Personenverkehr, fast nie gern gesehen und mit Euphemismen dekoriert wird: Mobilität. Doch Ideen wandern auch. Heraklit meinte: „Alles fließt, ist in ständiger Veränderung. Man kan nicht zweimal in den selben Fluss steigen.“ Alejandro Laurent Boucabeille Ruiz, geboren 1984 in Acapulco, Guerrero, Mexiko. Franko-Mexikanischer Staatsbürger, in Österreich aufgewachsen. Studien vor allem in Innsbruck, Wien, Athen, Barcelona und Brügge: Tourismus, Politik- und Geschichtswissenschaften, Journalismus und EU-Studien. Journalist, Übersetzer, und Autor. Lebie bislang in 20 Staaten, bereiste 86 Staaten und ist mehrsprachig. Übersetzt gerade seine ersten zwei literarischen Bücher vom Spanischen ins Deutsche.