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Statt zu fliehen trinkt der Engländer in einer Bar Schnaps, am 21. August notiert der Abt: „Eben hat mich der Briefträger angerufen. In Mytilene wurde ein Engländer verhaftet“. Einen Tag später wird der Abt auf die Polizeibehörde beordert. Die Folter und die Schläge beginnen. Nach und nach werden alle, die mitgeholfen haben die Flucht des Engländers zu organisieren, zur Gegenüberstellung auf die Gestapo gebracht. Abt Dionysios gelingt es die anderen zu schützen, er nimmt die ganze Schuld auf sich. „Prügel also für den Sündenbock! Sie schlagen entsetzlich“. Nach der Gewalt perfektionieren die Peiniger das „seelische Martyrium, Demütigungen, wie sie nur Scheusale an Gottlosigkeit einem Diener des Allerhöchsten zufügen können.“ Am 27. August tritt der Kommandant der Gestapo in Aktion, doch auch er kann den Abt nicht zum Reden bringen. Am 1. September notiert der Abt, dass auch der Fischereiinspektor und Bardanis verhaftet wurden. Es soll diesmal ein abschreckendes Beispiel für die ganze Insel sein. In einem Lager, in das der Abt und die weiteren Verhafteten gebracht wurden, feiert am 14. September 1942 Dionysios das erste Mal die Messe mit den Gefangenen. „Inmitten der Nacht erklingen an diesem Ort des Schreckens leise die alten Kirchenhymnen ‚Herr rette dein Volk’“. Am 29. September findet das Militärgericht statt. Dionysios Charalambous wird zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt, danach erfolgt die Einlieferung in das Strafgefängnis von Mytilene. Am 27. November werden die Gefangenen nach Saloniki eingeschifft, die Einlieferung in das KZ Pavlos Melas markiert den nächsten Leidensweg. Am 3. Juni notiert er, dass der Pater Ignatios eingeliefert wurde, den der Abt kennt. Einen Monat später werden 50 Personen als Vergeltung für die Verbrechen des griechischen Volkes hingerichtet. Der Pater ist einer davon. Als im März 1944 beschlossen wird, die Gefangenen im völlig überfüllten KZ nach Deutschland zu transportieren, erfährt Dionysios, dass der Metropolit von Saloniki, seine Befreiung plant. Dem Boten richtet der Abt aus. „Hör zu Stathi! Richte dem Metropoliten aus, dass ich ihm von ganzen Herzen für seine Anteilnahme danke. Ich bitte ihn aber inständig keine derartigen Schritte zu unterneh36 ZWISCHENWELT men. Mein Platz ist bei euch...“ Am 1. April beginnt die Fahrt in Viehtransportwaggons Richtung Deutschland, am 10. April erreicht der Zug Wien. Von Wien geht es nach Znaim. Am 9. Juni 1944 trifft Dionysios im Gefängnis in Stein ein. Die Erinnerungen des Dionysios Charalambous Auszüge übersetzt von Marianna Chalari Für das Projekt über die Häftlinge in Stein hat Marianna Chalari die Passagen über den Aufenthalt im Gefängnis Stein aus dem Buch Blutzeugen. Verfolgungen 1942-1945 im Damaskos Verlag, Athen, 1955 ins Deutsche übersetzt. Einige Abschnitte aus diesem Tagebuch werden hier zum ersten Mal publiziert, wobei bewusst die Schilderung über das Massaker am 6. April 1945 ausgeklammert bleibt, da dieses größte sogenannte „Endzeitverbrechen“ bereits sehr gut dokumentiert ist, aber über den Alltag im Gefängnis bisher nur wenige schriftliche Dokumente vorliegen. 14. Juni Man verlegt uns wiederum in andere Zellen. Nikolas, Iosif und Charalambous in Zelle O.1.24. Der Aufseher soll sich auf Kreta verletzt haben, sagte man uns heute beim Spaziergang, und ist ein überzeugter Griechenhasser. Er prügelt, tritt und schlägt unsere Landsleute schlimm. Man gibt uns auch Arbeit auf. Tarnnetz. In ein Netz aus Grasschnur flechten wir Maisblätter ein, indem wir zwei Finger Abstand zwischen jedem Blatt lassen. Jeder muss täglich 75 bis 100 Meter fertigen, und so strengen wir uns den ganzen Tag lang an. 9, Juli Kirche, ruft der Putzer durch unsere Luke und geht fort, um auch durch alle anderen Luken das Gleiche zu rufen. Was soll das jetzt wieder, Nikola? Hast du das nicht mitgekriegt? Das wird wohl eine Bezeichnung für ein Gericht sein, sagt er und lächelt losif neckend zu. Bald kommen die Aufseher und führen uns aus der Zelle hinaus. Kirche! Schon wieder das unbekannte Wort. Aber ein großer Saal erläutert es uns. Kirche. Im Hintergrund funkelt und glänzt der Altar. Rechts, die Kanzel und daneben der Gekreuzigte in Lebensgröße. Links, eine schöne Statue der Heiligen Jungfrau in lehender Stellung. An beiden Seiten, an den Wänden, Abbildungen der hehren Leiden unseres Herrn. Und über der Tür die Orgel. Ihre zarte Melodie besänftigt die geplagten Seelen der Häftlinge. Alle sitzen brav und andächtig, als ob sie Schulbuben auf der Schulbank wären. Wir hören die katholische Messe mit Andacht. Ich kann meine Augen nicht von einer wunderbaren Abbildung über dem Altar abwenden. Der gute Hirte, in Lebensgröße. Er empfängt und hält liebevoll das verlorene Schaf fest in seinem väterlichen Schoß. 25. Juli Es ist noch nicht die übliche Zeit, doch die Tür der Zelle geht auf. Es kommt kein Besucher herein — schön wär's! Hier befinden wir uns in vollkommener Verlassenheit. Die christlichen Tugenden der Wohltätigkeit und der Nächstenliebe sind dieser kalten Welt anscheinend unbekannt. Sie wurden vom verdammten heißen Sturmwind des Nazismus verbrannt und ausgetrocknet.