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am Fenster und hat dies gesehen. Er ist aus dem Zug hinausgestiegen und hat dem Italiener das Essen weggenommen und es auf den Boden geschmissen. (...) Darauf hat er begonnen ihn mit dem Fuß zu treten. Damit hatien wir die erste Barbarei im Exil zu sehen bekommen. Was würde uns noch erwarten? Der Offizier hat dem Aufseher die Waffe entrissen, ihm eine Ohrfeige versetzt und irgendwohin geführt. Was aus ihm geworden ist, weiß keiner. Mary Parianou muss im Gefängnis in Krems in der Schneiderei arbeiten. Sie beschreibt auch einige Mitgefangene wie zum Beispiel eine siebzigjährige Frau, die in Krems oder Umgebung verhaftet wurde, weil sie jeden Morgen aus ihrem Haus auf den Bürgersteig getreten sei und immer wieder „Scheißhitler“ gerufen habe. „Hier waren auch eine französische ‚Maquis‘, zwei österreichische Studentinnen und eine alte Hebamme, die zum Tod verurteilt worden war, weil sie eine Abtreibung an einer jungen Frau vorgenommen hatte. Die junge Frau wurde damals auch vor Gericht gestellt.“ Als Mary Parianou für drei Tage in die Isolationszelle kam, erwähnt sie zum ersten Mal die Aufseherin Stocker’, die sie herausgeholt hat. „Sie hat mich herausgeholt, weil sie mich mehr oder weniger gern hatte.“ Sofia Mavrakis sucht als Gefangene verzweifelt nach ihrem Mann, vom dem sie weiß, das er auch mit dem Zug nach Deutschland gebracht wurde. Ein scheinbar aussichtsloses Unterfangen. In meiner verzweifelten Bemühung, meinen Mann zu finden, schrieb ich immer wieder kleine Zettel auf Griechisch, die von den Frauen überall in den Fabriken verstreut wurden. Monatelang bekam ich keine Nachricht. Eines Abends, als sich die Essensklappe öffnete und unser Abendessen — eine schlichte Suppe — gebracht wurde, bekam ich einen winzigen Zettel in die Hand gedrückt. Ich faltete ihn auseinander. Was war das denn? Ganz unten, mit Blut geschrieben, stand ‚Se agapö‘, ‚Ich liebe dich‘. Wieso stand da aber nicht mehr? Ich schaute mir den Zettel genauer an und stellte fest, dass es überall kleine Löcher gab, die ganze Wörter bildeten. Ich musste mich anstrengen, den Zettel zu lesen, bevor die Essschalen wieder eingesammelt wurden und das Licht ausging. ‚Ich bin in der Isolationszelle im Gefängnis Stein‘, stand da. Welch eine Freude! Das Zuchthaus Stein lag nur ein Kilometer von unserem Gefängnis entfernt. Sofia gelingt es sogar ihren Mann zu sehen und ihm Essen in das Gefängnis zu schmuggeln. Möglich ist dies durch die Hilfe der Aufseherin Hedwig Stocker. Nikos Mavrakis selbst schildert das Wiedersehen mit seiner Frau folgendermaßen: Die Folge war, dass meine Frau, als sie von meiner Anwesenheit erfuhr, Wasser holen ging und ins Sandfass ein kleines Päckchen mit Zwieback steckte, den sie organisiert hatte. Sie strickte Pullover und gab sie der Gefängnisleiterin, die sie entweder für sich behielt oder verkaufte. Meine Frau bekam dafür Zigaretten und manchmal auch Zwieback und etwas Margarine. Ich erfuhr vom Helfershelfer der Wache, einem Tschechoslowaken, dass meine Frau da sei: ‚Deine Frau arbeitet gegenüber und will dich sehen.‘ Ich machte den Vorschlag, eine gemeinsame Zeit zum Wasserholen auszumachen, um sie treffen zu können. Das klappte tatsächlich, und wir trafen uns in der Menge. Der Wachmann wurde von unserem Helfershelfer abgelenkt und bekam auf diese Weise nicht mit, dass meine Frau mir zuflüsterte: ‚Schau im Sand nach, da ist was für dich.“ Währenddessen werden an Mary Parianou in Krems medizinische Versuche unternommen. Eines Tages hat man mich in die Praxis im Keller gebracht, heimlich. Sie haben mich ausgekleidet und auf ein hohes Bett gelegt, das wie 40 ZWISCHENWELT ein Operationstisch aussah. Sie haben mir eine Spritze in die Vagina gegeben und gleichzeitig eine Maschine über dem Bauch gehalten. Wie ich später erfahren habe, wurde ich bestrahlt. Ich hatte groRe Schmerzen, mir ist schwindlig geworden. Ich habe mich erhoben und die junge Frau gefragt, die als Krankenschwester diente, was sie mit mir gemacht haben. Sie antwortete nur: ‚Mary, jetzt kein Kind mehr.‘ Von nun an würde ich also keine Kinder bekommen können. Sie können sich vorstellen, was dieser Augenblick für mich bedeutete. Zwanzig Tage lang lag ich in meiner Zelle, mein Zustand war erbärmlich. Ich hatte auch Fieber. Frau Stocker hat eine Frau in meine Zelle gebracht, um mich zu versorgen. Sie hat mich nicht ins Krankenhaus geschickt. Vielleicht wusste sie, dass ich aus dem Krankenhaus nie zurückkommen würde.’ Die Aufseherin, die bei Mary Parianou, bloß „Stocka“ heißt, war in Wirklichkeit Hedwig Stocker. Sie hat viele politische Häftlinge unterstützt. „Frau Stocker war offensichtlich keine Hitler-Anhängerin. Sie gab uns heimlich Zeitungen zu lesen, und so konnten wir Neuigkeiten erfahren. Die beiden Österreicherinnen lasen sie durch und dann nahm die Kommandantin sie wieder.“® Aus Athen langt in Krems schließlich das Todesurteil für Mary Parianou ein. Abermals wird sie in die Isolationszelle gesteckt, heimlich wird sie jedoch von der Aufseherin Stocker mit Essen versorgt und bekommt auch eine Decke fiir die Nacht. Nach einigen Tagen kommt ein höherer Offizier und teilt der Gefangenen mit, dass sie begnadigt wird und meint: „Frau Stocker hat sich viel Mühe gegeben, um mich zu finden, damit wir dir Begnadigung gewähren können. Dafür musst du jetzt aber in ein anderes Gefängnis aufs Land.“ Am Bahnhof in Krems versichert die Aufseherin Stocker Mary, dass sie nach zwei Monaten wieder nach Krems kommen werde, dies sei mit der Kommandantin des anderen Gefängnisses so vereinbart. Um welches Gefängnis es sich dabei gehandelt hat, konnte bisher noch nicht ermittelt werden. Als Mary wieder nach Krems verlegt wird, weil dort fünf Arbeiterinnen benötigt wurden, wird sie mit der Griechin Sofia Mavrakis in eine Zelle gelegt. Nach der Freilassung der Häftlinge am 6. April 1945 und dem anschließenden Massaker erfährt Sofia Mavrakis, dass die Überlebenden auf Schiffen nach Westen gebracht werden. Offenbar konnten sich die Frauen in diesen Tagen mehr oder weniger unbehelligt in der Stadt bewegen. Als sie vom Abtransport hört, rast Sofia sofort bis zur Donau. Alle Häftlinge gingen in Reih und Glied an mir vorbei, und ich glaubte nicht, dass Nikos unter ihnen war. Ich könnte mich jedoch irren. Bei rund siebenhundert Häftlingen konnte ich es ja nicht mit Sicherheit sagen. Also zurück zu unserem Versteck. Die anderen Frauen sagten mir, dass ein paar Überlebende in einer Schuhfabrik arbeiteten. Ich lief zu Fuß dorthin, fand das Gebäude und setzte mich kurz auf eine Bank im Hof. Ich brauchte eine Atempause.'” Über das erste Versteck nach dem Massaker berichtet wiederum Mary in ihrem Bericht: „Zusammen mit Sofia sind wir neben einer Koks-Fabrik untergetaucht. Dort arbeiteten französische Gefangene. Sie haben uns bis auf Weiteres dort versteckt.“!! Uber das zweite Versteck schreibt sie: „Wir haben uns entschlossen, zu Paola zu gehen, einer jungen Frau, die wir im Gefängnis kennengelernt hatten. Paola war als Griechisch-Dolmetscherin im Gefängnis.“ Paola war mit einem Deutschen verlobt. Nachdem die Mutter sie wie eine Bedienstete behandelt hatte, arbeitete sie als Arbeiterin in einer Fabrik. Wegen des Diebstahls von Decken wurde sie zu einigen Monaten Gefängnis verurteilt und war so auch im Gefangenenhaus in Krems.