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Theodor-Kramer-Preis 2021 Konstantin Kaiser Frei gesprochen Der Theodor Kramer-Preis und die Literaturpflege Gesprochen am 9, September 2021 in Niederhollabrunn Zur Hand genommen habe ich mir ein Buch aus dem Jahre 2007: Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945. Was für ein Raum ist aber, frage ich mich, dieses Österreich nach 1945, ist es eine nach einem absoluten Neuanfang, einem Nullpunkt 1945, entstandene leergeräumte klinisch reine Kammer, in die man nun literarische Werkstücke wie in eine schöne, sauber ausgewischte Vitrine stellen kann? Und um die wohlgefüllte Literatur-Vitrine bemühen sich nun KennerInnen und Kenner der Literatur um unsere Aufmerksamkeit, holen das eine oder andere gute Stück aus der Vitrine, schwenken es bedeutungsvoll, indem sie seine literarische oder gar ästhetische Qualität betonen... Ich merke, es handelt sich um lauter nach 1945 erschienene, von ÖsterreicherInnen verfaßte Werke, die hier vorgestellt werden. Ich frage mich: Nährt sich diese österreichische Literatur seit 1945 nur an sich selbst als ihre eigene Amme? Könnten nicht vielleicht auch zeitgenössische Werke wie Nazim Hikmets „Menschenlandschaften“, Primo Levis „Ist das ein Mensch?“, Virginia Woolfs „Orlando“ oder gar die „Die Reise ist lang“, die Erzählungen des Lu Xun „Grundbücher“ für die österreichische Literatur sein, Werke eines Türken, eines Italieners, eines Chinesen, letzterer übersetzt immerhin von einem Österreicher mit einem Webfehler: Joseph Kalmer war ein Österreicher im Exil. Selbstredend könnte man diese Aufzählung ins Beliebige fortführen. Ich erlaube mir dennoch ernsthaft die Frage zu stellen, warum mir Ihomas Mann nicht näher sein soll als Christine Lavant, Anna Seghers als Gerhard Roth? Auch eine unfruchtbare Frage, die am Ende ins Beliebige führt? Stellen wir sie anders: Worin erweist sich die besondere Würde der Werke, die uns als von den Herausgebern als „Grundbücher“ vorgestellt werden? Nicht geht es hier darum, ihnen Qualität welcher Art auch immer abzusprechen - die österreichische Nachkriegsliteratur strotzt von Qualität, und deshalb figuriert auch Theodor Kramers Gedichtband „Lob der Verzweiflung“ nicht unter den „Grundbüchern“, obwohl er ganz überwiegend nach 1945 verfaßt wurde. Alfredo Bauers Romanzyklus „Die Vorgänger“ bleibt gleichfalls unerwähnt, obwohl er als ein großer Versuch literarischer Aufarbeitung österreichischer Geschichte seit 1848 ziemlich einzigartig dasteht. Oder wäre nicht Georg Stefan Trollers Drehbuch zur Filmtrilogie „Wohin und zurück“ eigentlich ein „Grundbuch der österreichischen Literatur“? Oder Fritz Kalmars „Das Wunder von Büttelsburg“, das in einem genial erfundenen Gleichnis das ganze Dilemma von Verdrängung und Wiedergutmachung abhandelt? Oder Stella Rotenbergs Gedichte, die seit 2003 gut publiziert vorliegen. Warum gehört das Werk eines Jura Soyfer, des österreichischen antifaschistischen Dichters par excellence nicht zu den Grundbüchern? — Hatte leider das Pech, schon 1939 im Konzentrationslager gestorben zu sein? Kommen wir also zur Sache. Literatur entsteht nicht in einem Leerraum, sondern inmitten von Widerspriichen und widerstreitenden Kraften und Ideen. Sie arbeitet diese Widerspriiche und Konflikte ausgesprochen langwellig, das heißt: oft über Jahrzehnte hinweg ab. Und es gab da neben der österreichischen Literatur, die da 1945 mit frischer Unschuld angetan wie aus dem Nichts emporwucherte, noch eine andere Literatur, eine Literatur des Exils, also eigentlich zwei österreichische Literaturen, und es wäre eine Aufgabe gewesen, diese Spaltung, diese Kluft in der österreichischen Nachkriegsliteratur durch bewußte Anstrengung zu überwinden und nicht, wie es praktisch geschehen ist, einfach nicht zu kennen, nicht mehr zu beachten oder gar heimtückisch abzuwerten. Diese Verdrängung des Exils war und ist praktizierter Antisemitismus, ob es den persönlich natürlich von antisemitischen Ressentiments ganz freien Beteiligten bewußt war oder nicht: Sie wissen es nicht, aber sie tun es. Nun wäre ja auch noch ein Grundwiderspruch, der die Literatur beschäftigen müsste, nämlich der Widerstand gegen Beschönigung und Verdrängung der nationalsozialistischen Verbrechen. Was aber in Österreich vielfach literarisch Furore machte, war eine Literatur, die nicht einmal mit einem Beistrich auf das seltsame Verschwinden von 200.000 Bewohnerlnnen der Stadt Wien hinwies, und einfach zur Tagesordnung überging, auch wenn auf dieser Tagesordnung nun der Aufstand gegen den Subjekt-Prädikat-Satz stand. Ein weiterer grundlegender Widerspruch liegt in der simplen Frage, ob man einen Menschen überhaupt in den Konturen eines Österreichers darstellen kann. Anders gefragt: Wo sind die Figuren, die Persönlichkeiten in der österreichischen Literatur, die Protagonisten außer dem Herrn Karl oder dem Bockerer, die uns geläufig geworden sind. Mit dieser Frage kommen wir in den Bereich der Ästhetik, zur Frage nach einem gültigen Leben, das nicht etwa als Illustration eines Milieus verläuft. Wie immer: Noch etwas ganz Eigenartiges fällt mir beim Durchblättern des Bandes zu den „Grundbüchern der österreichischen Literatur“ auf: dass die literarischen Gattungen oder Genres, die hier bevorzugt Erwähnung finden, Roman, Lyrik, Erzählung sind. Autobiographie, Reportage, Essay, Aphorismus sind nicht Gegenstand der Literaturbetrachtung. Warum ist z.B. Ruth Klügers „weiter leben. Eine Jugend“ hier vorerst nicht zu finden? Daß auch ein Sachbuch Literatur sein kann, ist ganz außerhalb des Horizonts. Die Verengung der Literatur auf ihre konventionellsten Genres ist meines Erachtens Ausdruck einer geistigen Stagnation, die sich die wirklichen Widersprüche bei aller Bemühtheit um die Bewältigung von Problemen - bis hin Dezember 2021 9