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an den amerikanischen Schriftsteller Ambrose Bierce, der gegen die Sklaverei kämpfte, am Amerikanischen Bürgerkrieg teilnahm, über die Schrecken des Krieges schrieb, Journalist wie Kritiker des Journalismus war und 1911 eine Aphorismen-Sammlung mit dem Titel Wörterbuch des Teufels (Devil’s Dictionary) veröffentlichte, hat Richard Schuberth seine Aphorismen in einem Buch mit dem Titel Das neue Wörterbuch des Teufels (2014) versammelt. Sie enthalten Dialektik, Paradoxie und Sinnlichkeit, lassen sich - nach dem Willen des Autors — nicht definieren, bieten aber unbedingt Satire, Witz und Ironie als Kritik an den Verhältnissen und heben sich von der beliebten Manier vager positiver Lebensweisheiten ab, die gerne als konstruktiv gelobt wird. Denn als Pendant zu jener zuvor angeführten konformistischen Kritik, die nur apologetische Phrasen bietet, existiert gegenwärtig — nicht neu, aber wohl verstärkt — eine generelle Diskreditierung von Kritik, die sich in einem allgegenwärtigen positiven Denken ausdrückt, das zur Ideologie geworden ist. Dagegen sieht Richard Schuberth seine Aufgabe im Schreiben negativer Aphorismen, um „deren Waffen einem emanzipatorischen, einem linken Anspruch dienstbar zu machen.“ Viel ließe sich noch sagen, aber der Theodor Kramer Preis ist doch mit der Erwartung verbunden, viele Lesende zu gewinnen, die ihre eigenen Entdeckungen machen. Als einer der Lesenden möchte ich mit einem Motiv enden, das mich sehr bewegt hat: Die Toten besuchen die Lebenden, stärken sie, helfen ihnen, heitern sie sogar auf. Solche Begegnungen spielen sich in den Köpfen der Lebenden ab, sind Gespräche mit den Toten, die SelbstEva Geber gesprächen ähnelt, doch in der Wirkung unbedingt real. Die jüdische Schriftstellerin und Wissenschaftlerin Klara Sonnenschein, Überlebende des Konzentrationslagers, in der Chronik einer fröhlichen Verschwörung oder das kurdische Mädchen Xeycan im Bus nach Bingöl, beide verstorben, tauchen wie lebendig auf. Sie bleiben Menschen der unmittelbaren Gegenwart, ihr Sprechen bewahrt und verwandelt Vergangenheit, reicht in die Zukunft, hilft den Lebenden, ermahnt sie, verwirrt sie, macht sich mitunter über sie lustig. Wir Lesende halten sie zunächst für noch lebende Menschen und sie sind es auch, denn ihr Einfluss auf das Leben ist da. Ich kann diese Motive ebenso bei Eva Geber finden. Eigentlich ist dies sogar eine Grundthematik ihres gesamten Werkes: Die „kämpfenden Frauen“ vermögen noch das Bewusstsein der Gegenwart korrigieren und, über sie lesend, erscheinen sie uns als Zeitgenossinnen, bestärken und widersprechen uns. Die Gespräche mit diesen Toten können über verschiedene Zeiten reichen, wenn Eva Geber das 1906 erstmals erschienene Buch von Emma Adler über Die berühmten Frauen der Französischen Revolution (2014) wieder herausgegeben und kommentiert hat, macht sie uns mit der vergessenen sozialdemokratischen Autorin Emma Adler ebenso wie mit den vergessenen Frauen der Revolution bekannt. Eva Geber und Richard Schuberth haben die weiten Möglichkeiten des Iheodor Kramer Preises nicht nur erfüllt, sondern uns mit ihrer Literatur auch viele Möglichkeiten für ein Schreiben gezeigt, das mit Widerstand und Exil in enger Verbindung steht. Dafür danken wir ihnen und dafür ehren wir sie. Erinnerung an Ruth Klüger Vielen Dank für diesen ehrenvollen Preis. Und für diese besondere Laudatio. Ruth Klüger hat diesen Preis vor genau zehn Jahren erhalten. Damals hatte ich die Ehre, ihre Laudatio zu halten. Damals wurde sie 80 und sie, die niemals von Geburtstag und Gratulation etwas hören wollte, meinte: „80 — no, das ist schon was. Das wollen wir feiern.“ Und so feierte sie mit uns beim Heurigen. Und 80 wurde ich heuer, dachte an Ruth und feierte beim Heurigen. Ein Gedicht von Iheodor Kramer für ihn und fiir die Theodor Kramer Gesellschaft. Für die Flüchtlinge aus Afghanistan. Für Ruth Klüger. Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan. Ich darf schon lang in keiner Zeitung schreiben, die Mutter darf noch in der Wohnung bleiben. Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan. Der Greisler schneidet mir den Schinken an und dankt mir, wenn ich ihn bezahle, kindlich; wovon ich leben werd, ist unerfindlich. Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan. Ich fahr wie früher mit der Straßenbahn und gehe unbehelligt durch die Gassen; ich weiß bloß nicht, ob sie mich gehen lassen. Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan. Es öffnet sich mir in kein Land die Bahn, ich kann mich nicht von selbst von hinnen heben: ich habe einfach keinen Raum zum Leben. Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan. Ne Ruth Klüger, Theodor-Kramer-Preisträgerin 2011 Dezember 2021 13