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Ruth und ich Kurz nach dem Erscheinen von weiter leben. Eine Jugend kam Ruth Klüger im Frühjahr 1993 nach Wien. Hubert Christian Ehalt hatte sie für die „Wiener Vorlesungen“ im Rathaus eingeladen, und die Redaktion von AUF - Eine Frauenzeitschrift, die ich mit herausgab, hatte die Chance ergriffen und sie zu einem Vortrag im feministischen Rahmen gebeten. Durch einen Zufall musste ich einspringen und Ruth vom Hotel abholen. Nervös und mit zitternden Knien ging ich hin: Wie werde ich bestehen vor der großen Ruth Klüger — denn das war sie für mich, nachdem ich ihr Buch gelesen hatte. Und dann kam eine freundliche Dame die Treppe herunter und lachte mich an. Dann saßen wir da, zwei reife Frauen, und sprachen von unseren erwachsenen Kindern, wie sie uns Freude machen oder Sorgen — Ruth war bereits Großmutter, ich stand kurz davor —- und dann über Politik, Geschichtsbewusstsein und Literatur. Mit Niveau und mitreißendem Humor, voll Selbstironie. Die Zeit wurde uns zu kurz. Dann der Abend bei uns, am nächsten Abend der im Rathaus. Ruth: eindrucksvoll und begeisternd. Dann flog sie nach Kalifornien zurück. Und ging mir nicht aus dem Kopf. Schließlich schrieb ich ihr. Und Ruth antwortete: Nun habe ich eine Freundin in Wien. Abgesehen von einigen Zitaten will ich nicht die Laudatio von damals wiederholen, auch nicht meinen Nachruf auf Ruth in der Zeitschrift Tagebuch. Ich werde aber aus Ruths Mail-Korrespondenz mit mir zitieren. Von einem persönlichen, literarischen, politischen Austausch werden Sie hören. Ich will erzählen, wie ich Ruth Klüger erlebt habe, was ich von ihr gelernt habe: Zum Beispiel noch viel genauer hin zu schauen. Aber auch mehr Selbstvertrauen: Das habe ich anhand einer Anmerkung in einer Seminararbeit gesehen, die ich ansehen durfte. Es war das Sommersemester 2003, als Ruth in Wien Gastprofessorin war. Und ich besuchte sämtliche Vorlesungen, auch das Konservatorium und das Privatissimum. Die Anmerkung lautete: „Ich sehe, Sie haben viel gelesen, Sie wissen viel. Aber was denken Sie? Das interessiert mich.“ In der Folge habe ich anders geschrieben und mir mehr zugetraut und überhaupt erfahren, dass ich mich auf mich selbst verlassen kann. Eine Arbeit, die kurz darauf folgte, war mein Nachwort zu einem Roman von Else Feldmann. Darauf Ruths Antwort: 21.09.2003 vielen Dank für Deinen lieben Brief und die Zusendung Deines Nachworts zu Else Feldmann. Das hast Du fabelhaft hingekriegt. Man, ich meine frau, bekommt sofort Lust zum Lesen. Ich werde mir die Bücher beschaffen, wenn ich wieder in Wien bin. Vielen Dank für die Widmung, ich bin ganz gerührt. Das Zusammenleben verschiedener Klassen im selben Haus, das Du so ausführlich ansprichst und dabei ganz richtig auch auf Nestroy verweist, ist eine interessante Sache. In Ländern, wo die Menschen gerne ein Eigenheim oder auch eine Eigentumswohnung haben, leben die Schichten viel getrennter. Ich glaube, die Philosophen unter den Städteplanern sehen die Trennung als ein Negativum. Z.B. haben die armen Kinder eine bessere Chance weiterzukommen, wenn sie dieselben Schulen besuchen wie die reichen [...] Wenn Du hierherkommst, wirst Du sehen, wie ich in einem „akademischen Viertel“ wohne (nur Leute, die an der Uni arbeiten), das von ausschlieflich spanisch sprechenden Arbeitern instand gehalten wird. Die sind 14 ZWISCHENWELT arm, und schicken von dem wenigen, das sie verdienen, noch viel nach Hause. Und sie wohnen natürlich ganz woanders, und ziemlich weit von hier. Sehr bequem für mich, auch eine sehr sichere Gegend, aber ein Kind, das hier aufwächst, kann keine Ahnung haben, wie die andere Hälfte lebt. Ich hab schon als ganz kleines Kind die Hausmeisterwohnung gekannt und wusste, dass sie nicht so schön war wie unsere, obwohl unsere eigentlich auch nichts Besonderes war. Hier kann man das Fernsehen nicht anschalten, ohne dass der Schwarzenegger einem in grauenhaftem Englisch erklärt, warum Kalifornien seiner dringend bedarf. Ich glaube aber, er schafft's nicht. Vor allem demonstrieren jetzt die Frauen gegen ihn, weil er so ein Macho und widerlicher Kerl ist. Da freut sich unsereine. Hier ist es jetzt halb neun am Sonntag, und ich muss Schluss machen, denn ich fahre gleich zum Dan, um die johlende Großmutter beim Fußballspiel von Isabela abzugeben. Neuerdings nennt sich ihr Team Red Hots. Was aber nichts mit dem Sozialismus zu tun hat. Der Wiener Kummerspeck schwindet. Dreizehn Pfund hab ich abgenommen und hungere weiter. (Sommersemester, das sie im Buch unterwegs verloren beschreibt) 24.02.2004 Ich habe Ruth iiber die Todesstrafe in den USA gefragt: Todesstrafe: die Gerichte (Richter und Geschworene) sprechen das Urteil, nicht der Gouverneur. Die Todesstrafe wird in Kalifornien mehrmals im Jahr, mit vollem Einverständnis einer Mehrheit der Bevölkerung, durchgeführt. Es braucht keinen Gouverneur, um ein Urteil zu bestätigen. Er kann aber in Ausnahmefällen begnadigen. Schwarzeneggers Vorgänger, der Demokrat Davis, hat es nicht ein einziges Mal getan. Es ist mir völlig unverständlich, warum unser jetziger Gouverneur, [...] es anders halten sollte, wo er doch nie auch nur eine Silbe gegen die Todesstrafe verlauten ließ. 17.08.2004 inzwischen geht es um den US-Präsidenten. Ich will natürlich etwas wissen: Was ich vom Wahlkampf halte? Im Augenblick möchte ich nicht wetten, wer gewinnt. Die Demokraten haben Chancen, gewiss, aber ob’s genug ist? Die Enkel habe ich natürlich wiedergesehen, stark verändert, wie sich Kinder in drei Monaten halt verändern. Mit den zwei Hexenpuppen, die ich ihnen gebracht hab, schienen sie sehr zufrieden. Wir gingen zum Pool und die ganze Familie hat Kunststücke im Wasser vollbracht. (Vater schwamm zwei Längen Unterwasser ohne zum Atmen aufzutauchen. Man war beeindruckt.) 08.10.2004 Mein Nachwort für die Neuausgabe von Wanders „Siebenten Brunnen“ habe ich fertiggeschrieben, der Thedel von Wallmoden ist zufrieden, und Erich Hackl will’s dem Konstantin zum Vorabdruck anhängen, was gar nicht schlecht wäre für die Verbreitung, finde ich. Beide kleinen Enkel spielen jetzt Fußball, natürlich in getrennten Teams. Das ist so eine Gaudi! Ich fahre am Samstag wieder hin, kann gar nicht genug von diesen hechelnden verschwitzen Knirpsen kriegen. Sonst bereite ich mich auf diese Tour vor, von der ich gerade berichtete. Da ist noch einiges zu schreiben, d.h. an den Vorträgen zu werkeln. Die demokratischen Kandidaten schlagen sich gut, finden wir, und man schöpft wieder Hoffnung. Morgen (Freitag) ist ja wieder eine große Debatte, und wenn sich der Bush so blöd wie letztes Mal benimmt, so sinken seine Chancen. Das sagen sogar die Republikaner. Man wird sehen. 14.12.2004 Frage, ob Ruth Chanukka gefeiert hat: