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Chanukka wurde nicht gefeiert, dafür Thanksgiving mit massenhaft Kindern und einem liebenswürdigen Hund namens Sterling, und das war sehr nett. Jetzt sitze ich wie Du über einem Haufen Arbeit und frage mich verzweifelt, wie das alles rechtzeitig fertig werden soll. Am 29. habe ich in Philadelphia (jährliches Treffen der Modern Language Association) einen kleinen Vortrag tiber Veza Canetti zu halten, der ist so ziemlich vorhanden, danach kommt im Jänner diese Poetikvorlesung in Tübingen, drei Vorlesungen, die alles andere als fertig sind. Im Februar noch ein Vortrag in Dresden, über Viktor Klemperer, der ist noch nicht einmal angefangen. Habe mir übrigens die Nobelpreisrede von der Jelinek aus dem Netz geholt und mich sehr damit amüsiert. Manche Leute finden sie ja skandalös, ich fand's glänzend. Was sagst Du? An Ruths Geburtstag, 31.10.2007 habe ich mich ausnahmsweise auf gefährliches Terrain gewagt und Ruth gemailt: Mazeltov! Ich weiß, Du willst keine Geburtstagswünsche und ich habe mich immer halbwegs zurückgehalten damit. Aber Du bist so weit weg, dass ich gar kein Telefonat mit Dir führen kann, schwimmst irgendwo in den Weltmeeren herum, und so hast Du es Dir selbst zuzuschreiben, wenn ich gerade darum mit den Gedanken an Dich beschäftigt bin. Also, ganz kurz und schnell: Mazeltov! Und lass es Dir hoffentlich gutgehen zusammen mit Maria und Mary und ihrem Mann, die ich alle herzlich mitgrüßen lasse, und die ich bitte, auch für mich mit einem Glaserl auf Dich anzustoßen. L-chaim, Deine Eva Mittwoch 31.10.2007, 14:30 Re: Mazeltov ... hat mich auch erreicht, und ich freu mich über die Wünsche. 1.11.2008 Ich maile den Ruth-Freundinnen: Britta Cacioppo, Sabine Kock, Regina Doppelbauer, Renata Schmidtkunz u. Anhang: habe gestern mit Ruth telefoniert. Sie hatte Geburtstag, will aber keine Gratulationen und erzählte entsetzt, dass um 7:30 ein Bote sie unsanft aus dem Bett klingelte, um ihr im Namen des Verlags Blumen zu bringen. Jedenfalls geht es ihr gut, obwohl sie ein irres Programm mit 100.000 Auftritten und Interviews hat. Nach Wien kommt sie wieder am 18.11. — und dann gehts auch rund. Das war, als Wien fiir eine Stadt — ein Buch weiter leben. eine Jugend in 100.000 Auflage herausbrachte. Das Jahrhundertbuch! Im folgenden Mail freut sich Ruth: Auf dem Ehrentag ist der Biirgermeister der Schlagobers oder, wie man hier (in Göttingen) sagt, das Sahnehäubchen (das, der Sahnehiiupl?). 25.04.08 — Ruth schickt mir ein Mail weiter, das sie an den Verlag ihres nächsten Buches geschickt hat. Sie bedankt sich dort für Korrekturen: Sie haben sich ja unendlich viel Mühe gemacht, und dafür bin ich Ihnen zu Dank verpflichtet. Aber manchmal wird der Text unnötig konventionell: Wenn Sie „Dame“ schreiben, wo ich „Frau“ wähle und „ältere“ Leute, wo ich von „Alten“ spreche, so glätten Sie, wo ich aufrauhen will. Ruth wollte auch immer über unseren Regierungszustand Bescheid wissen: Über unsere „Regierung“ erspare ich mir und Dir jeden Kommentar. Er wäre nur unschicklich unflätig. Nichts möchte ich lieber hören, bzw. lesen, als einige politische Unflätigkeiten, verfasst von Dir und Bertram. Also her damit, wenn Du gerade nichts Besseres zu tun hast. Damit ich nicht ganz unbedarft im Oktober ankomme. Über Österreich steht hier fast nie was in den Zeitungen, zuletzt nur, dass Ihr einem Affen Menschenrechte verleihen wolltet. Stimmt das? Wir hingegen freuen uns, dass Obama seine Sache bis jetzt gut macht und McCain sich schief ärgert darüber. 25.05.2008 Betrifft ihr neues Buch „Unterwegs verloren“: Heute war eine verärgerte Besprechung des Buchs, wenn nicht gar ein Verriss in der Süddeutschen. Männerempörung, es sei unmoralisch, so über einen Kollegen zu schreiben. Andererseits schrieb mir Alice Schwarzer einen Fanbrief. So geht's. Frauen lesen halt anders, ich hab's schon immer gesagt. Und dann schickte mir Ruth: Einen Brief, der sie gefreut hat: Liebe Ruth Kliiger, ich schreibe als Leserin, vor allem aber als ehemalige Hörerin Ihrer Lehrveranstaltungen an der Uni Wien. Ich habe Ihr Interview im letzten Profil gelesen. Darin sagen Sie, man hätte Sie hier an der Germanistik nicht haben wollen. Das möchte ich etwas relativieren oder es zumindest versuchen. Denn Studierende, die sich über Ihre Professur gefreut haben, gab es weit mehr als Lehrende, die sie bedauerlicherweise nicht zu schätzen wussten. Im Textverständnis so vieler Hörerinnen haben Sie Spuren hinterlassen. Von mir kam dann die Frage, ob sie Schmidt-Denglers Rezension ihres Buches gelesen hat. Schmidt-Dengler ist ja kurz danach gestorben. ja, die Rezension von Schmidt-Dengler habe ich bekommen. Er war ja sehr großzügig, wenn man bedenkt, was ich über ihn und sein Seminar geschrieben hatte. Das ist fast beschämend. Schade um ihn, er war sicher der beste Germanist, den Wien hatte. Am 14.08.2019 mailt mir Ruth: Liebe Eva, verzeih, dass ich so lange nicht geschrieben habe. Das Altern ist daran schuld. Mir fällt halt alles immer schwerer, sogar wenn ich die feste Absicht habe, meine Freundinnen zu belästigen, indem ich mich bei ihnen melde. Ansonsten mache ich mir das Leben schwer, indem ich einen Wälzer von einer Hitler-Biographie lese, 2-bändig, scheinbar der letzte Schrei zu diesem nicht umzubringendem Thema, von einem Historiker namens Volker Ullrich. Immer wenn ich aufhören will, erinnert mich etwas, was er zu sagen hat, an Trump und ich fühle mich gezwungen, mich weiter aufzuregen. Trump hat eine ganz gute Chance, die nächste Wahl zu gewinnen, und ich tröste mich, dass ich ja schon fast 88 Jahre alt bin, also wie lang kann’s noch dauern? Wenn Du was Gutes lesen willst, so lies die Romane von Toni Morrison, die gerade gestorben ist (im Alter von 88 Jahren, wie komm’ ich nur drauf?). Ruth ist am 5.10.2020, knapp bevor sie 89 geworden wire, gestorben. Ich vermisse Ruth so sehr, ich bin noch immer im Dialog mit ihr, d.h. natürlich nicht, aber ich versuche es. Ich arbeite gerade an einem Buch über die große Fotografin Madame d’Ora - d.h. ich schreibe über deren Zeit im Versteck vor den Nazis im Süden Frankreichs — und was diese Zeit aus ihr gemacht hat. Die Fotokünstlerin, die vorher die High Society fotografiert hat, geht nach dem Krieg in die Lager der DPs, also der displaced persons. An sich im Auftrag der UN, der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration), die sich um die Dezember 2021 15