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Das siebte Wien (Jamaica, Queens)" Ein Mädel rieb ihr Fenster rein Beim elektrischen Hochbahngleis. Ein Greis sitzend still im Abendschein. O, Kind schwarz mit Katze weiß! Sanft leuchtete der Himmel wie Zinn, spät ein Durch-Zug schnurrte fern... Und wenn ich auch begriff den Sinn Des Lebens auf diesem Stern, war ich einsamer noch als Monds Immigranten: Jeder Vers, den ich schrieb, schien dumm, wo parallel Geleise brannten zum Reim im Infinitum. Der Titel der deutschen Neufassung verwirrt zunächst, da es in diesem Gedicht keinen weiteren expliziten Wienbezug gibt. Es ist möglich, dass Brainin Wien zu einem durchgehenden Motiv in der deutschsprachigen Sammlung machen wollte und einfach nach einem titelgebenden Gedicht suchte. Die Idee des siebten Wiens kommt auch in der Ballade von den Bronx Fiestas vor: „Ein siebtes Wien, von dessen erstem verbleibt keine Spur!“ Dieses Bronx-Gedicht zieht tatsächlich Parallelen zwischen Wiener und New Yorker Orten, zum Beispiel dem Wiener „Gemeindewohnbau Ferdinand Lasalle“ und Hochhäusern („Wabenhöf“) in der Bronx, und der vergleichbaren „Brise“ die „schwül weht“.'! Diese Verbindungen negieren damit implizit die Behauptung, dass es keine Spur vom „ersten Wien“ gebe, die Spur ist aber eine Spur der beschädigten Erinnerung, die dennoch der Beschädigung zum Trotz bewahrt bleibt. Wien irrlichtert als Ort der Kindheit, Jugend und Vertreibung durch die Gedichte. In einem mit BeHa, Brooklyn 2"? überschriebenen und seiner Frau Florence Priluk gewidmeten Gedicht heißt es „kehr heim ich zu dir nach Beha“. Beha ist das russische Wort für Wien, die Buchstaben B und H stehen jedoch auch für Brooklyn Heights. Die Familie Priluk wohnte in Brooklyn und auch Brainin eine Zeit lang. Wien ist eben nicht nur der andere Ort, sondern immer auch in New York präsent. Weil untrennbar mit ihrem Geburtsort verbundene Emigrantinnen und Emigranten vertrieben wurden, sind Fragmente des Wiens dieser Zeit auch wo immer die Vertriebenen sind, während das zurückgelassene Wien versehrt und verstümmelt ist. Die Zahl Sieben ist in der jüdischen (und christlichen) Tradition bedeutsam, und Brainin hatte vielleicht Anna Seghers Das siebte Kreuz und Fred Wanders Der siebente Brunnen im Sinn. Darüber hinaus benennen Titel und Untertitel des deutschen Gedichts die Pole seines Lebens, Wien und New York. Das Problem mit dem geänderten Titel ist vielleicht, dass es das Gedicht vom Verweis aufeinen konkreten Ort entankert. Brainins deutsche Fassung folgt der englischen inhaltlich in den ersten beiden Strophen, ändert aber die letzten beiden Zeilen. Gewonnen ist dabei das Bild der Geleise, die sich als Reim in der langen Perspektive treffen, was auch als die Möglichkeit einer erfolgreichen Synthese der Iyrischen Geleise gelesen werden könnte. Auffallend ist der Wechsel vom Iyrischen „Du“ in der englischen Fassung zum „Ich“ in der deutschen. Ein für Brainin charakteristischer Amerikanismus ist der „Durch-Zug“, eine Übersetzung des im amerikanischen gebräuchlichen Ausdrucks „through-train“, der die Durchsagen der New Yorker subway evoziert. Es gibt wiederkehrende Motive in den New Yorker Gedichten, unter anderem Grafhti, die sommerliche Hitze, der Blick auf die Stadt von der Hochbahn, und das in den Blick-Kommen von Menschen, die im Vorübergehen betrachtet werden, jedoch eine über ihre Jeweiligkeit hinausweisende Tiefendimension bekommen. Besonders liebe ich auch BeHa, Brooklyn 1. Eine Frau steht in der „Hitzewelle“ auf dem „Teerpappendach“: „Ich sch sie noch immer von der Hochbahn... mit ihren roten Händen / sich beschattend: wie Kassandra auf Trojas Grafhitiwänden“.' Die poetische Qualität dieser Gedichte liegt in dem Fokus auf das Sichtbare, scheinbar Nebensächliche und dem unpathetischen, assoziativen Auffächern von Erinnerungen und Geschichte, der Mischung aus Wienerischem Tonfall und oft amerikanischer Syntax, dem Nebeneinander und Ineinander der beiden Sprachen, dem oft aufgebrochenen Versmaß unter Bewahrung des überraschenden Endreims. Eine russische Puppe Glückseligs Antiquitäten: Ukrainische Puppe wurde erstmals 1981 in Herman Hakels Literaturzeitschrift Zynkeus und im darauffolgenden Jahr in einer englischen Version in einer Zeitschrift namens Klingsor gedruckt. In diesem Fall könnten die beiden Fassungen fast gleichzeitig entstanden sein. Glickselig’s Antique Shop: Ukrainian Doll“ Outer Shell Emigres’ daughter: round face Brown hair parted neat in the middle, Of American lipstick a trace. Inner Shell Revealing Chagall before Hitler: Red doll cheeks daubed in the wrong place, Black lace boots to dance to the fiddler! Innermost Shell Lifting her bag to her shoulder A steerage tanned woman (much older!) Thrusting her belly with grace. Ukrainische Puppe” Äußerste Schale Tochter von Einwandrern... rundes Gesicht, braunes Haar, geteilt in der Mitten; amerikanischer Lippenstift, licht Innere Schale Ein Blick auf die Welt Chagalls bevor Hitler: Puppe wangenrot ein Gedicht, Schwarze Schnürstiefel, tanzend zum Fiedler Innerste Schale Mit ihrem Sack die Schiffsgebräunte (Ellis Island Eingezäunte!) nach New York aufbricht Dezember 2021 25