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Wir kennen die Magie der russischen Puppen, die sich teilen und vermehren lassen, noch aus der Kindheit. Diese hier befindet sich im Antiquitatengeschaft Glueckselig & Son, das sich in Manhattan in 108 East 57nd Street befand, und von Friedrich Glückselig zuerst mit seinem Vater und nach dessem Tod von ihm allein geführt wurde. Die Brüder Friedrich und Leo Glückselig und Max und Fritz Brainin kannten sich in Wien und blieben sich auch in New York verbunden. Friedrich Glückselig ist als Lyriker unter dem Namen Friedrich Bergammer bekannt, und sein Antiquitätengeschäft war auch ein Treffpunkt für andere Schriftsteller und Exilanten. Im Leo Baeck Archiv finden sich zu Friedrich Glueckselig einige ihm gewidmete Gedichte Brainins und eine Übersetzung eines Gedichtes von Bergammer. Das Gedicht über die ukrainische Puppe mag auch die Ehefrau Florence Priluk meinen, sie war eine in den USA geborene Tochter russischer Einwanderer. Die transgenerationalen Schichten von Diaspora und Exil sowie die Überlagerungen der Verkörperungen der Mode werden wunderbar eingefangen. Die Schichten der Puppe entsprechen einer Bewegung zuerst rückwärts in der Zeit in der zweiten Strophe, dann wieder vorwärts in der dritten, während die Personifizierungen der Puppe verschiedenen Generationen entsprechen. Die äußere Schicht, die größte Puppe, ist eine junge Frau, erkennbar als Tochter europäischer Einwanderer, ihre braunen Haare mit dem altmodischen Mittelscheitel erinnern noch an ihre möglicherweise osteuropäischen jüdischen Ursprünge, während der eher unauffällige „lichte“ Lippenstift ihr jüngeres amerikanisches Selbst bezeichnet. Die „lichte“ Farbe, oder im Englischen die Spur eines Lippenstifts ist auch ein Element der Hoffnung oder Freude im Neuanfang. Die mittlere Strophe, oder die zweite Schicht, gemahnt an das einstige jüdische Dorfleben, evoziert durch den Namen und die Gemälde Chagalls, einem Pionier der Moderne und zugleich ein spezifisch jüdischer Künstler. Er steht für eine Ära vor und im Gegensatz zur Ära der Zerstörung, die von Hitler symbolisiert wird, der vier Jahre nach Chagalls Tod geboren wurde. Die innerste und kleinste Schicht, in der die Frau „viel älter“ ist, könnte die gealterte Version der Frau im Mittelteil sein, die nun aus ihrer Heimat nach New York flieht. In der englischen Version reist sie, wie viele Einwanderer*innen, in der untersten Klasse des Schiffes, behält aber dennoch die Grazie der ehemaligen Tänzerin. Die deutsche Fassung fügt die Internierung in Ellis Island als eine weitere gemeinsame Erfahrung von Einwanderern, die in New York ankommen, hinzu. Drei lyrische Selbstportraits Abschließend möchte ich drei eigenständige Fassungen eines poetischen Selbstporträts diskutieren: Der Übersetzer (1979) befindet sich im Friedrich Glueckselig-Archiv und ist selbigem gewidmet.!° The Displaced Poet erschien 1988 und schließlich Selbstbildnis als Übersetzer mit dem Untertitel (Federal Plaza, Downtown Manhattan) in Das siebte Wien. In der englischen Fassung lautet die erste Strophe: I've always dreamed of renting a cheap ex-loft place to work — a window on a New York SoHo street, cool river air conditioning its summer heat! — where I translate Brecht's unknown verse if (sorry, no space, say eds!) my own’s returned with a rejected face.” 26 — ZWISCHENWELT Es ist zunächst ein Selbstporträt in Orten, places, aber auch eine Reflexion über Raum, space, der verweigert und gewonnen wird. Das Setzen des Wortes „space“ in eine eigenständige Zeile veranschaulicht konkret poetisch den Raum, der hier von potentiellen Herausgebern verweigert wird. Das früheste dieser Selbstporträts spricht auch von „SoHo-Speichern“ als idealem Wohn- und Arbeitsort. Die aufgelassenen SoHo-Speicher waren in den 70er und 80er Jahren als New Yorker Künstlerwohnungen gefragt, bevor sie im Zuge der Gentrifizierung unbezahlbar wurden, dies war also ein beliebter Sehnsuchtsort, um in einer Gemeinschaft von Künstlern zu leben und zu arbeiten. In der jüngsten deutschen Fassung ist ebenfalls ein „frührer Speicher“ anvisiert: „auf ein besonntes Gasserl hinaus beim Westside River-Pier, / wo Iheodor Kramers Vers ich übersetz wenn ich bin stier“'®. In dieser Version zeigt sich deutlich die Ansprache an das wieder erreichbare Wiener und österreichische Publikum, sowohl im Wechsel von Brecht zu Kramer, der in den USA weniger bekannt ist, als auch in den dialektalen Vokabeln „Gasserl“ und „stier“. Wien und New York gehen eine schöne Symbiose ein. Die zweite Strophe erwähnt jeweils einen Job als Übersetzer, den das lyrische Ich ausübt, welcher aber genug Zeit fürs eigene Schreiben lässt und außerdem ausreichend gut bezahlt ist. Die Verortungen lauten „im Turm des Einwand’rungsbüros“ (1979), „in a Louise Nevelson-glassed house on Federal Plaza“ (1988), „in einem getarnten Büro der C.I.A. im Glashaus immens“ (1989). Im realen Federal Plaza Gebäude (Baujahre 1963-69) sind eine Reihe von Bundesbehörden untergebracht, einschließlich des Department of Homeland Security, des Federal Bureau of Investigation New York City und des New York City Immigration Court. Die Arbeit des Übersetzers ist im Gedicht mit der eigenen Vergangenheit als Immigrant verbunden, das lyrische Ich ist also ein „displaced poet“ in mehrfachem Sinn, als Emigrant, als Dichter aus seiner Muttersprache, und als technischer Ubersetzer von seinem Wunsch, Gedichte zu übersetzen. Natürlich kann und sollte argumentiert werden, dass Brainin im Akt des Schreibens seine poetische Persona wieder in diese Dislokationen einschreibt und sie als seine eigenen wiedergewinnt. Brainin vergleicht die Architektur des Federal Plaza-Gebäudes mit Skulpturen von Louise Nevelson. Die in die Fassade eingelassenen Fensterschlitze der Fassade bilden in der Tat ein markantes Zick-Zack-Muster, das mit Nevelsons monochromatischen Wandskulpturen verglichen werden kann. Nevelson, eine der wichtigsten amerikanischen Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, ist wie Brainin selbst jüdische Finwandererin und der Verweis auf ihre Skulpturen knüpft Verbindungen zwischen einer gemeinsamen Vergangenheit sowie persönlichen, ästhetischen und künstlerischen Kontinuitäten zwischen der „alten“ und der „neuen“ Welt. Es ist kein Leben zurück in Wien, sondern in New York, das hier nach einem halben dort gelebten Jahrhundert skizziert wird, aber die Vergangenheit, die exilierte Literatur und die Erfahrung des Exils sind in der Textur der Gedichte präsent. Die Arbeit des Übersetzers in diesen Gedichten hat mit Flüchtlingen zu tun, dem Bearbeiten von computerübersetzter Literatur aus dem Chinesischen, und der „Bundesstaatseinkommenssteuer“ (1989). Im frühesten Gedicht kommt jedoch eine nächtliche Szene hinzu, wo der Übersetzer nachts allein im Glashaus zurückbleibt und zu einer Art künstlerischen Matrix wird: „(O — Transit für die Seelen J. B. Singers, OUTS und INS! )“. Mit der Erwähnung des großen jüdisch-amerikanischen Schriftstellers Bashevis-Singer, der auf Jiddisch schrieb, wird eine Parallele zur eigenen Biographie und