OCR
zum jüdischen Fxil gezogen, und das Mechanisierte der Einwanderungsbürokratie ins Poetische verfremdet und zum Erinnerungsraum erweitert. Brainins vermischter Gebrauch des Deutschen und Englischen erinnert ebenfalls an die Praxis des Jiddischen, verschiedene Sprachen kreativ aufzunehmen und ist nicht ausschließlich in den Gedichten nach 1938 präsent. Mehrere Gedichte in Die eherne Lyra haben Amerikabezüge und beschreiben die technischen Errungenschaften der Moderne, ihre transienten und ikonischen Räume wie Filme und Flugzeuge, Radio und Jazz, dabei lässt Brainin auch immer wieder geläufige englische Wörter stehen, die in der Ubersetzung an Gefühls- und Klangwert einbüßen würden. Nach mehreren Jahrzehnten in New York macht sich auch manchmal eine stärker amerikanisch geprägte Syntax bemerkbar. Brainins poetische Praxis ist durch die ästhetischen Qualitäten semantischer und syntaktischer Störungen und Überraschungen gekennzeichnet. Diese modernistische Tradition des translingualen Mischens und der Collage-Techniken machen Brainins Gedichte besonders interessant. Kaiser benannte das Graffito als Brainins prägendes Stilmittel: „Überall scheint das Vergangene durch das New Yorker Ensemble — wie eben in Graffitis die darunter liegenden Schichten immer wieder aufgekratzt werden“. Frederick (Fritz) Brainin, 1913 in der Wiener Leopoldstadt geboren. Er veröffentlichte früh Gedichte in der Arbeiterzeitung und weiters die Lyrikbände „Alltag“ (1929) und noch 1934 mit taktisch gewähltem „Die cherne Lyra“. 1938 emigrierten er und sein Bruder Max mit Hilfe ihres bereits dort lebenden Onkels Solomon Brainin nach New York. Unterbrochen von einer traumatischen Periode als Aufseher in einem Kriegsgefangenlager führte Brainin ein zurückgezogenes Leben in der Metropole. Er bestritt seinen Unterhalt als Übersetzer von Sachtexten und schrieb weiterhin Lyrik, bald auch in englischer Sprache. Darüber hinaus übersetzte er Theodor Kramer, Brecht und Kästner ins Englische. Brainins poetischer Spannbreite sind die urbanen Pole seines Lebens, Wien und New York, die jugendliche Prägung durch das jüdisch-säkulare und sozialistische Umfeld, die Erfahrung von Antisemitismus, Faschismus und Exil, aber auch der spielerische Umgang mit seinen beiden Sprachen und die sinnliche Erfahrung New Yorks eingeschrieben. Er starb 1992 ebendort. Richard Wall Andrea Capovilla, geboren 1963 in Bregenz, Studium der Germanistik und Philosophie in Wien. Lehrte an den Universitäten Oxford und Cambridge, seit 2017 Leiterin des Ingeborg Bachmann Centres der Universität London. Buchpublikationen: „Der lebendige Schatten. Film in der Literatur bis 1938“ (1994); „Entwürfe weiblicher Identität in der Moderne. Milena Jesenskd, Vicki Baum, Gina Kaus, Alice Rühle-Gerstel. Studien zu Leben und Werk.“ 2004). Anmerkungen 1 Theodor Kramer: Love in London. Poems. Übersetzt von Frederick Brainin und Jörg Thunecke. Riverside 1995. | 2 z.b. Jörg Thunecke: Fritz (Frederick) Brainin. Österreichischer Dichter in der Neuen Welt. In: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, Jahrbuch 2003, S. 42-83, online hier: https://www.doew.at/ cms/download/9h622/web_Jahrbuch_2003.pdf 3 Henry und Robert Heller, Konstantin Kaiser, Joshua Parker und Jörg Thunecke danke ich herzlich für Gespräche und Hinweise. 4 Joshua Parker: Blossoms in Snow: Austrian Refugee Poets in Manhattan. New Orleans 2020. 5 Fritz Brainin: Alltag. Gedichte 1926-1929. Hg.v. E. Barth-Wehrenalp, Wien 1929. 6 Ebenda: Weite Landschaft, S. 25. 7 Fritz Brainin: Gesang vom Zeitgenossen. In: Die eherne Lyra. Wien/ Leipzig 1934, S. 18. 8 Frederick Brainin: Das siebte Wien. Gedichte. Wien 1990, S. 41. 9 Fritz Brainin: Dyckman Street El-Stop ‘84. In: Arno Reinfrank (Hg.), Zehn Takte Weltmusik: eine Lyrikanthologie des Pen-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland. Gerlingen 1988, S. 48. 10 Brainin: Das siebte Wien, S. 120. 11 Ebenda, S. 104. 12 Ebenda, S. 89. 13 Ebenda, S. 88. 14 Zitiert nach Thunecke 2003, S. 56. 15 Brainin: Das siebte Wien. S. 90. 16 https://archive.org/details/gabyglueckselig00unse_35/page/n196/ mode/lup?view=theater 17 Brainin: The Displaced Poet. In: Zehn Takte Weltmusik. S. 49. 18 Brainin: Selbstbildnis als Ubersetzer. In: Das siebte Wien. S. 109. 19 Konstantin Kaiser: Von manchem Glück kuriert. Frederick Brainin, ein Lyriker aus Wien. In: Das unsichtbare Kind. Essays und Kritiken. Wien 2001, S. 126-131, hier S. 130. (Erstdruck in Die Presse, 4.4. 1987) Der oberösterreichische Landeshauptmann, ein Freund der sogenannten Blauen und stramm wie sie gegen Asylanten auftretend, gewann im Herbst 2021 die Wahlen u.a. mit der plakatierten Meinung, mit „Hausverstand“ (mit seinem?) ließen sich die anstehenden (wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, ...) Probleme am besten lösen. Ob der sogenannte Hausverstand, dessen Beschwörung in letzter Zeit sich landauf landab großer Beliebtheit erfreut, tatsächlich ausreicht, um die komplexen Ansprüche urbi et orbi begreifen, analysieren und bewältigen zu können, bezweifle ich (einwerfen ließe sich auch die nicht ganz ernst gemeinte Frage, Klassenunterschiede nicht unter den Teppich kehrend, auf welchen Verstand sollten sich denn jene berufen dürfen, die kein Haus besitzen?). Wie wäre es mit Holzverstand? Wie, Holzverstand? Mag der Haus- und Häuslverständige fragen. Wohl ein Scherz. Holzverstand, um auf den Holzweg oder von ihm ab- oder wegzukommen? Wer Holzverstand hat, weiß es längst: die astreichen und schadhaften Stellen des Stammes sagen mehr über die Beschaffenheit eines Waldes aus als schön ausgeformte Längen. Von ihnen ist das Knorrige abgetrennt, die übriggebliebene Glätte täuscht Harmonie vor. Erst an den Wunden des Baumes erkennt man, ob er dem Steinschlag ausgesetzt war, dem Lawinenschnee, dem Sturm oder dem gewaltigen Druck eines unruhigen Steilhangs. Die geradwüchsige Faser ist leicht verwertbar, ausdrucksstark ist sie nicht. (Von den Würgmalen) Schon in jungen Jahren im Wald und mit dem Wald Erfahrungen zu sammeln war Franz Kain in die Wiege gelegt: „Damasus Dezember 2021 27