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Nächster Lebensabschnitt: „Strafdivision 999“. Er überlebte den Wüstenkrieg in Tunesien und begab sich, desertierend, in US-amerikanische Gefangenschaft. Zurück in Österreich begann er als Journalist und ernsthaft als Schriftsteller zu arbeiten. Er schrieb vorwiegend Gedichte, in den Jahren 1948/49 entstand der 15-teilige Sonettenkranz Der Strom, inspiriert von seiner Wohnsituation an der Donau in Urfahr. Es ist ein elegischer Ton in diesen Sonetten, es ist als würde der Strom teilhaben an der Geschichte jener, die an ihren Ufern leben: Dann scheint ein Schrei aus ihm emporzusteigen,/ Ein Schrei, den schwarzen Stunden abgepresst. Ein Reif von Schauer ist in allen Zweigen,! Wenn dieser Schrei den dunklen Strom verlässt.// Der Schrei gleicht dem verzweifelten Verneigen/ Vor einer Macht, die keine Schuld erlässt;/ Er kommt, um unerbittlich anzuzeigen, / Dass jetzt der Abgrund steigt herauf zum Fest.!/ Dann huscht ein Rascheln über Gräser hin! Und mit dem sanften Windhauch mit dem leisen! Kommt eine Weise: Sinn und Widersinn.// Als néhmen uns die Zeiten bei der Hand/ Um uns den langen Weg zu uns zu weisen (...) (Sonett ITI) Der Strom wird spätestens im X. Sonett zu einer ethischen Instanz, die bereit ist zu richten, „Wenn wir uns selbst und unser Werk entehren,/ Und stehen vor der eigenen Schande stramm/ Dann schäumt der Strom, er bricht die stärksten Wehren,/ Jagt uns noch tiefer in den grauen Schlamm.“ Als Auslandskorrespondent für die Volksstimme kam er nach Berlin und lebte von 1953 bis 1956 in der geteilten Stadt, die ihn zum schon erwähnten Berlin-Roman inspirierte. Diese Jahre erwiesen sich künstlerisch als ein entscheidender Lebensabschnitt. Er pflegte Kontakte zu Autorinnen und Autoren wie Anna Seghers, Brigitte Reimann, Berta Waterstradt, Bert Brecht, Johannes R. Becher, Peter Huchel und Stephan Hermlin. Und avancierte vom „Sonettisten“ zum anerkannten und „gedruckten“ Prosa-Autor. Die politische Rechte wirbt nun wieder verstärkt mit „Heimat schützen“, eine Anspielung auf den „Heimatschutz“ (der paramilitärischen Heimwehr in der Zwischenkriegszeit), mit einer Verklärung des Bodenständigen, die sich in Wirklichkeit als Xenophobie, als Versiegelung der Böden, als Zersiedelung von Landschaft u.v.m. herausstellt. Denn jene, die mit dem Etikett „Heimat“ hausieren gehen, um Emotionen zu schüren, sind auch jene, die kräftig und nachhaltig dabei mitmischen, diese mit ihrer Engführung, ihrer geistigen Gülle und nicht zuletzt mit ihrer raumraubenden Zersiedelung zu zerstören. Brauchtum wurde zur Folklore, die Tracht zu einer Mode, schlimmstenfalls politisch missbraucht. Widerlich, wie gewisse Politiker sich kostümieren, wenn sie sich unters Volk mischen, im Bierzelt, vor einer Wallfahrtskirche, bei Wahlveranstaltungen etc. Der junge Kain durfte im Gefängnis Moabit, da er noch nicht verurteilt war, seine Zivilkleider tragen, und die bestanden aus einem Trachtenanzug, der hier sehr auffiel, und er wurde deshalb oft als ‚Bayer‘ gehänselt. Er ärgerte sich darüber, weil sich ein Trachtenanzug aus Österreich doch recht wesentlich von einem solchen aus Bayern unterschied. Der bayerische hatte immer etwas von lärmendem Kirtag an sich, während der österreichische zurückhaltender war wie einstens der Rock von Erzherzog Johann. Seine Kleidung — so in der Erzählung Kaiser Franz Joseph vor dem Volksgericht — war auch der Grund, dass er „dem Spott und Hohn der Bewacher ausgesetzt“ war und „der Bayer“ genannt wurde. Nach dem Verhör, in dem das konspirative Treffen von Jugendlichen beim Kaiserdenkmal in Ischl zur Sprache kommt, resümiert er grimmig: „Im Kampf gegen Himmler ist selbst Kaiser Franz Joseph ein Bundesgenosse.“ Franz Kain trug auch später selbstbewusst seinen Janker und seinen Filzhut. Die „Koa“ — so der Familienname im Dialekt gesprochen — waren bekannt als Charaktere. Seine kritische Liebe zum Inneren Salzkammergut hinderte ihn aber nicht daran, sich die Vorgänge bei einer lang zurückliegenden Brauchtumsfeier zu vergegenwärtigen. In der Erzählung Das Schützenmahl spürt er der Rolle eines Außenseiters im Verlauf des traditionellen Armbrustschützenfestes, alljährlich abgehalten mit Schwegelpfeifer und Trommler an einem Sonntag gegen Ende Oktober, einfühlsam und mit dem Wissen um Details nach. Ein erst Dreißigjähriger, der mit niemandem redet außer mit sich selbst, der verloren wirkt und einmal gesagt haben soll: „Es ist viel Angst in der Welt, ihr wisst es nur noch nicht‘, schießt sich schließlich eine Kugel in den Kopf. Jahre später wird sein Skelett von „Beerenweibern“ in einem Brombeergestrüpp gefunden. Was einem Aufenstehenden oder Touristen in Anbetracht einer bestimmten Kulturlandschaft oder einer Festlichkeit Wörter wie „wunderschön“ oder „herrlich“ entlockt, löst bei einem Einheimischen, der um Zusammenhänge, „Geschichten“ und die Geschichte weiß, manchmal zwiespältige Gefühle aus. Dem Franz Kain verdanke ich eine Besprechung meiner ersten dünnen Publikationen. Das war schon eine Überraschung, da die Bändchen von den anderen Medien ignoriert wurden. Meine erste Veröffentlichung im literarischen Jahrbuch der Stadt Linz, den Facetten 1980 kam ebenfalls durch ihn zustande. Er war in jenen Jahren Redaktionsmitglied der vom Kulturamt herausgegebenen Anthologie. Wenn ich mich nicht irre war ich mit ihm in der Linzer Altstadt zusammengetroffen. Wir wechselten ein paar Worte, abschließend sagte er: „Schick mir drei Gedichte, ich werd schaun, was ich machen kann!“ Er war eine stadtbekannte Persönlichkeit, man traf ihn unvorhersehbar auf der Straße oder (nicht ganz so unvorhersehbar) zu später Stunde in einer seiner Lieblingsweinstuben, vor allem aber bei der „Berger-Mami“ in der Alt stadt-Diele oder beim „Rauscher“ in Alt-Urfahr. Wenn Bohumil Hrabal behauptet hat, das Wirtshaus sei für ihn so etwas wie eine Universität gewesen, so trifft dies etwas eingeschränkt auch für Franz Kain zu. Freilich weiß man aus seinen Erzählungen, dass in seinem Elternhaus, wie in den meisten evangelischen Häusern des Inneren Salzkammerguts, viel gelesen wurde, und zwar nicht nur die Bibel, sondern auch, wie man vom „Bauernphilosophen“ Konrad Deubler aus Goisern weiß, die Schriften der Aufklärung. Kain war tatsächlich lieber unter „Menschen von der Straße“ als unter „Arschkräulern und „Sumperern“. Wie sinngemäß auch Brecht in seinem Aufsatz Volkstümlichkeit und Realismus (1938) gesagt hat, nämlich: „Dem Volk aufs Maul schauen ist etwas ganz anderes als dem Volk nach dem Mund reden.“ In seinem Essay Lob des Wirtshauses kommt er auf das beginnende Wirtshaussterben zu sprechen, auf das Wegfallen einer Einrichtung, die auf Besucherinnen und Besucher durchaus eine kathartische Wirkung haben kann: Legt den Stein wieder weg, den ihr schon aufgenommen habt und den ihr auf einen werfen wollt, der die Wirtshäuser und Wirtshäusler gar noch verklären will. Legt den Stein beiseite und nehmt dafür einen Bleistift zur Hand und beginnt das nachfolgende Phänomen nachzurechnen: Da begrüßt ihr, je nach Temperament, saftig schaDezember 2021 29