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„Wende“, Aufnahme in die Anthologie Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts im Verlag Volk und Wissen, neben Namen wie Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler.”' Franz Kain antwortete nach Zusendung des Buches einem der beiden Leiter des Autorenkollektivs, Horst Haase, er fühle sich „aufgekratzt“, auf solch „stolze Höhen“ befördert worden zu sein: Wenn es nämlich nur und vor allem mein ‚politischer und geistiger Standpunkt‘ wäre, der Sie bewogen hätte, mich in diese illustre Reihe zu stellen, dann wäre dies wohl etwas wenig. Politische Gesinnung und Erfahrung sind sicher eine wichtige Voraussetzung meines künstlerischen Schaffens, aber ankommen muss es doch vor allem darauf, was aus einer solchen Grundlage gemacht wird, mit anderen Worten: das Was ist natürlich wichtig, aber bei der Gestaltung ist das ‚Wie‘ mindestens ebenso wichtig.” Der realistische Erzähler Kain war ein im besten Sinne realistischer Geschichtenerzähler, der aufklärerisch wirken wollte, doch wie Richard Wall beim KainKolloquium 1999 meinte, wurde er von vielen belächelt und wird auch heute von vielen als obsolet angesehen, nicht zuletzt von jenen Kollegen, die sich einer Schreib- respektive Ausdrucksweise verpflichtet fühlen, die sie mit ‚Sprache als Kunst‘ definieren und nicht nur ihre, sondern jede Literatur von allem Gesellschaftlichen ‚befreit‘ sehen wollen”. Kain allerdings bekannte sich zum klassischen Erzählen, denn: Die Ingredienzien einer Geschichte sind immer noch dieselben: menschliches Verhalten, Bewähren und Versagen. Es muss gezeigt werden, was dem Menschen widerfährt: nicht im fatalistischen Sinne, sondern im Eingebettetsein in große Zusammenhänge. Das soziologische Füllhorn bereichert da nicht, es verarmt, wenn es als Wunderwaffe zum Direktbeschuss eingesetzt wird. Die Rechnungsarten zu kennen, bedeutet nicht, ununterbrochen von ihnen und von nichts anderem zu reden. Das innere Gerüst muss zwar bloßgelegt werden, den eigentlichen Bau stellt es noch nicht dar. Auch ein Skelett verführt noch zu Gedanken über pralle Schenkel.“ Seine Geschichten machen erschreckend die „Würgmale“ präsent, das Perennierende der Zeitgeschichte, wie sie in die Leben schnitt und schneidet: der Schoß ist fruchtbar noch. Erich Hackl meinte in seinem sehr persönlich gehaltenen Nachruf („Mir ist, als wäre mit Franz Kain ein Vater verschwunden“’), Franz Kain sei „über Jahrzehnte der einzige österreichische Autor von Rang“ gewesen, „der die ‚Würgmale‘ unserer Zeitgeschichte literarisch erkundet hat“. Sein Werk sei dem Schaffen Theodor Kramers am nächsten gestanden.?° Kaltenbrunner In Kains Erzählung Der Weg zum Ödensee, auf Fakten beruhend, in der Ernst Kaltenbrunner, der 1946 in Nürnberg dann als einer der Hauptkriegsverbrecher gehenkte Leiter des Reichssicherheitshauptamtes an einem Maimorgen des Jahres 1945 mit zwei Adjudanten, geführt von einem ortskundigen Jäger, ins Tote Gebirge steigt, „zu den kalten Odseen am Ende der Welt*”, sich in einer Almhütte verkriecht, um vielleicht den Machtwechsel so unbeschadet überstehen zu können, zumal die alten Nazi-Netzwerke abermals greifen würden, er sich in einiger Selbstverblendung vor32 ZWISCHENWELT sagt, nicht der Schlimmste der Nazis gewesen zu sein, kein Barbar wie der Volksschullehrer Himmler oder der antisemitische Grobian Streicher, vielmehr ein Edel-Nazi, der sich gewissensbeschwichtigend in seinen vermeintlichen Verdiensten sonnt, eine Zukunft als Rechtsanwalt im Nachkriegsösterreich sich ausmalt, denn: Er ist der einzige Beamte unter all den Abenteurern der außer sich geratenen Zeit. Mit ihm und nur mit ihm wird man ein anständiges Übergabeprotokoll aufnehmen können, eines, das vor der Weltgeschichte besteht, wenn Recht und Gesetzlichkeit wieder eingekehrt sind. Ein Weitblick über Jahrzehnte ist notwendig, um diese Aufgabe zu bewiiltigen.** Denkt er, sich Illusionen vorgaukelnd. Kaltenbrunner erhofft sich einen „Persilschein“, hatte er doch die Sprengung der in den Salzbergwerksstollen um Aussee eingelagerten Kunstwerke vereitelt, wobei es zu einem verbalen Schlagabtausch zwischen ihm und dem Gauleiter August Eigruber gekommen war, der ihm, dem Polizeichef, mit Verhaftung gedroht hatte: „Der Chef der Polizei heißt immer noch Kaltenbrunner! Mich wollen Sie verhaften? Sie Hanswurst, Sie August!‘ Damit warf er den Hörer auf die Gabel. So etwas hatte dem Gauleiter noch keiner gesagt.“ Vorerst ratsam, in dieser sowohl politischen als auch meteorologischen Übergangszeit, ins Gebirge „davonzugehen“, spurenvermeidend in Serpentinen emporstapfend, über die „unendliche Weite des Hochplateaus“ auf Skiern gleitend: „die weite Fläche liegt unschuldig glitzernd da. Alle Spuren sind verweht, das weiße Land ist zu einem Neuland geworden, in das man hineinschreitet wie der erste Mensch, alle Mühsal und Müdigkeit sind vergessen und vorbei“.? Aus dem inneren Redefluss Kaltenbrunners während des Auf stiegs, in seine Reminiszenzen, Selbstrechtfertigungen, Zukunftspläne (er denkt bereits, sich einer Nachkriegsregierung anzudienen), schwenkt dann zwischendurch der Blick des Protagonisten nach außen: dieser konditionsstarke Jäger als Bergführer gefällt ihm. Kaltenbrunner, selbst dem „Akademischen Bergsteigerverein“, der „Alpinistenvereinigung der wirklich Gebildeten“ zugehörig, hält daher sich und den voranschreitenden strammen Jäger dieser Berge für würdig; hingegen die roten „Naturfreunde“ für nicht hierhergehöriges Gesocks: „diese Wiener Hausmeister, Magistratssekretäre, Krankenkassenbeamten und Arbeiterkammerbürokraten“”!. Der Herrenmensch lässt sich nicht ablegen selbst auf der Flucht noch, außerdem war ihm als Polizeichef bekannt, dass im Toten Gebirge sich ein hartnäckiger Partisanenwiderstand hielt, der nicht auszurotten war.” Ebengerade der von ihm fehleingeschätzte Jäger wird ihn an die Amerikaner ausliefern: nach drei Tagen ist der Alpinausflug beendet, Kaltenbrunner und seine beiden Begleiter werden in der Hütte hoppgenommen. Als biederer Ästhet fand übrigens Kaltenbrunner am größten KZ auf „ostmärkischem“ Boden eigentlich nur zu beanstanden, dass dieses Mauthausen am „Nibelungenstrom“ für ein Lager viel zu schön gelegen war; er hätte dort lieber eine „SS-Ordensburg“ gesehen. Für ihn würde dann doch noch das verdiente dicke Ende kommen, wo aller elitär-bürgerliche Verputz abfallen sollte. Denn ein Zeugenbericht aus ebendem KZ Mauthausen würde sein reines Selbstbild vor aller Augen zertrümmern, seine Lebenslüge, die folgerichtig ins Nürnberger Urteil „Death by hanging“ mündete: Damals, als sich herausstellte, dass die Hälfte der Hingerichteten gar nicht tot war, wurde einem SS-Führer schlecht, und er musste hinter dem Verbrennungsofen erbrechen. Da war es Kaltenbrunner, der rief: ‚Kognak her!‘ Ein Scharführer kam mit einem Tablett Gläser, und im Leichenraum beisammenstehend, tranken sie den Schnaps.