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Kaltenbrunner sagte laut ‚prost‘, ich weiß es, weil ich direkt am Tor des Ofens gestanden bin. Dann hat er noch den SS-Offizier, dem schlecht geworden ist, angeschrien und hat ihn Schlappschwanz und Hosenscheifser genannt.** Eichmann im Donaunebel In Kains Roman Das Ende der Ewigen Ruh (1978), in dem der Niedergang eines Linzer Traditionsgasthauses beschrieben wird, ist es ebenfalls ein untertauchenwollender Obernazi, von dem gesagt wurde, dass er dort Unterschlupf gefunden hatte: der Chefbürokrat der „Endlösung“ Adolf Eichmann. Der Roman spielt jedoch schon in der fortgeschrittenen Nachkriegszeit, in der sich verstärkt neonazistische Tendenzen zeigten. Eine Neonazi-Gruppe hat in dem Gasthaus ihren Treffpunkt: die „Markomannen“. Gleich aus acht Blickwinkeln selbstoffenbart sich dieser postfaschistische Sumpf als ein Zeit- und Sittenbild der Provinz, die stellvertretend für ganz Österreich steht. Doch nicht nur die Neonazis treffen sich dort, sondern auch der Sparverein mit einem sozialdemokratischen Obmann und einem kommunistischen Betriebsrat als Kassier. Im Obergeschoß haben verschiedene Stadtpersönlichkeiten diskret ein Stelldichein mit ihren heimlichen Geliebten, wobei die Ewige Ruh immer mehr einem Bordell ähnelt. Ein Zeitungschronist, der dort Stammgast ist, findet (wieder wuchern die Geschichten, die ja auch den Nährstoff des Autors bilden) hinreichend Material, zusammengesetzt aus Gerüchten und Wirklichkeit. Ein teilentmündigter früherer Weinhändler findet sich auch ein, der sich ein paar Groschen bei Friedhofsarbeiten verdient: „Ich kümmere mich ja nicht viel um die Welt und ihr Treiben, ich hab genug damit zu tun, was mir die Welt alles antut. Was sich die anderen zusammenreimen, ist ihre Sache.“ ** Aber an Eichmann erinnert er sich vage: Damals sind viele Leute unterwegs gewesen, und vieles hat man vergessen. Auch dieser Fremde mit der dunklen Brille war eine Episode. Dann aber haben die Juden den Adolf Eichmann gefangen, und beim Prozess 1961 sind viele Bilder durch die Zeitungen gegangen. Da haben wir gewusst, dass es der Eichmann war, der damals in der ‚Ewigen Ruh‘ Nachtquartier bezogen hat, bevor er ins Gebirge hinein ist und weiter nach Italien und nach Übersee. Aber bei Tee mit Rum verschwindet wieder all das in dem „zähen Nebel“, „der von der Donau herauskriecht und nicht aufsteigen kann. Gleich wird mir warm, und ich trink, was ich sonst selten tu, auch noch ein kleines Bier. Wein auf Rumtee macht nämlich krätzig und rebellisch, da legt man besser ein Krügel Friedfertigkeit dazwischen.“ Fluch und Segen eines sehr guten Gedächtnisses Im Unterschied zu solchen Verschwommenheiten des kollektiven Gedächtnisses antwortete der Autor auf die Frage eines Interviewers, was seine beste Eigenschaft sei: „Mein sehr gutes Gedächtnis.“ Was seine schlechteste Eigenschaft? — „Mein sehr gutes Gedächtnis.“ Es ist das erinnerte Detail, das Kains Werk so lebendig macht. Es ist die Erinnerung an die sich einkerbenden Leiden, die den Menschen, insbesondere den sogenannten „kleinen Leuten“? zugefügt wurden und die sie, von schlechten Führern verblendet und gezwungen, einander zufügten. Diese „Würgmale“ der Geschichte bleiben virulent: An den Wundmalen der Geschichte müssen wir selbst nicht unmittelbar beteiligt sein und sind trotzdem dabei, als Angehörige der Gattung nämlich, die sich seit Jahrtausenden versteht, einander Wunden zu schlagen. [...] Wenn der Erzähler über diesen Zustand nachdenkt, in mehreren Dimensionen, wenn er die Begebenheiten mit einer jeweils eigenen Lebensgeschichte ausstattet und beschwert, dann nicht, um in den Gräbern zu wühlen und in vergilbenden Akten alter Missetaten. Er will vielmehr den Strömen und deren Symptomen auf die Spur kommen, die an den grofsen Prozessen der Menschheitsgeschichte mitweben und mitwirken. Seine Traurigkeit darüber, dass die Würgmale so tief und vielgestaltig sind, ist quälend produktiv [... P°, so der Autor in einer seiner wenigen theoretisch-poetologischen Stellungnahmen (gleichwohl schätzte ihn der Theoretiker Georg Lukäcs). Der zeithistorische Bogen spannt sich über die letzten Jahre der Habsburgermonarchie, den Ersten Weltkrieg, die Erste Republik, den Austrofaschismus, die Nazijahre bis weit hinein in die Nachkriegszeit. „Feuer aus!“ im Sinne eines sogenannten „Schlusstriches“ unter die Vergangenheit darf nicht gegeben werden. In seinem meisterlichen, zuerst 1962 in der DDR im renommierten Aufbau-Verlag erschienenen, dafür in Österreich sträflich ignorierten autobiographischen Roman Der Föhn bricht ein schilderte Kain, wie es bis zum Einmarsch der Nazis in Österreich hatte kommen können, wo man doch wusste, dass Faschismus Krieg bedeuten werde, veranschaulicht am Beispiel von vier politisch interessierten Jugendlichen. Wie waren die einen fanatische Nazis geworden, die anderen Widerstandskämpfer? Kains Werk zeichnet sich darüber hinaus durch beeindruckende Naturschilderungen einer Heimat aus, der er in Hassliebe sich verbunden wusste. Notwendiger Zufallsfund Meine erste Begegnung mit dem Werk von Franz Kain erfolgte Ende der 1990er Jahre in Berlin, wo ich für zwanzig Jahre meinen Nebenwohnsitz aufschlagen sollte; ich trug damals täglich einen Rucksack voll mit Büchern, die in der DDR erschienen und die mir unbekannt waren, in meine jeweils kleinen Zimmer, ob in Berlin-Mitte, Prenzlauer Berg, Treptow oder Friedrichshain. Die Bücher wurden zu Schleuderpreisen verscherbelt, auch zur freien Entnahme vor die Tür der Antiquariate gestellt. Mag sein, dass wer mit solcher Literatur und Wissenschaft aufgewachsen war, sie geringschätzte, sie bis zum Überdruss kannte, zumal sie durch die erfolgte „Abwicklung“ des Ostens als Makulatur, als angeblich veraltet oder gar diskreditiert abgestempelt wurde. Für mich hingegen war vieles Neuland, und ich scheue mich nicht, im Rückblick zu bekennen, dass ich diesem privaten Studium post festum wesentliche Anregungen für mein Leben verdanke: es betrifft auch insbesondere Werke der Literaturwissenschaft, der musischen sowie historischen Disziplinen — stellvertretend nenne ich Namen wie den aus Graz gebiirtigen Revolutionshistoriker und Widerstandskampfer Walter Markov, den wiederum aus Wien gebürtigen Musikwissenschaftler Georg Knepler, der von 1928 bis 1931 Karl Kraus am Klavier begleitet hatte“, den universalgelehrten Wirtschafts- und Alltagshistoriker Jürgen Kuczynski oder den Philosophen und Literaturwissenschaftler Wolfgang Heise. Obwohl deren Werke freilich nach Vorgaben des Marxismus-Leninismus verfasst waren, zeugten sie Dezember 2021 33