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mit einer Invalidenrente in Pension gehen. Trotz allem aber hat Jeffrey Berlin nie aufgegeben, er erwies sich bis Ende seines Lebens als geistig und wissenschaftlich arbeitsfähig und hat praktisch bis zum letzten bitteren Moment mit übermenschlicher Willenskraft seine Arbeit fortgesetzt. Nachdem er 1976 mit einer Doktorarbeit über die Dramen Schnitzlers und Ibsens an der State University of New York in Binghamton promoviert hatte, war Jeffrey Berlin bis zu seiner Pensionierung in der Universitätsverwaltung tätig, zunächst am Philadelphia College of Textiles and Science (heute in Thomas Jefferson Universitat umbenannt) und dann später an der Holy Family University, auch in Philadelphia. Gelegentlich konnte er zusätzlich zu seiner administrativen Arbeit auch B.A.-Lehrveranstaltungen anbieten. Diese zwei Institutionen werden kaum auf der Landkarte der amerikanischen Hochschulen wahrgenommen und sind keineswegs als geisteswissenschaftliche Forschungseinrichtungen anzusehen. Eben dies zeigt aber umso mehr, wie stark sein Wille und wie kompromisslos seine Beharrlichkeit waren, um eine akademische Laufbahn zu realisieren, die vor allem auf einer imposanten Anzahl von wissenschaftlichen Veröffentlichungen basierte, ohne die wesentliche Unterstützung oder einen produktiven Rahmen einer Forschungsuniversität hinter ihm. Obschon er im formalen Sinn nie ein immatrikulierter Student seiner Hauptmentoren war, betrachtete Jeffrey Berlin sich selbst als Schüler von profilierten USA-Literaturwissenschaftlern, die alle weithin bekannt sind als Experten für die österreichische Literaturgeschichte, nämlich Sol Liptzin (1901 — 1995), Harry Zohn (1923 — 2001) und Donald G. Daviau (1927 — 2019). Außerdem war Jeffrey Berlin viele Jahre mit der amerikanischen Fachzeitschrift Modern Austrian Literature (heute in Journal of Austrian Studies umbenannt) assoziiert, nämlich als Beiratsmitglied. Solange sein Gesundheitszustand es erlaubte, nahm er regelmäßig an wissenschaftlichen Konferenzen in den USA teil, aber eher selten oder ausnahmsweise an europäischen Tagungen, trotz der Tatsache, dass die mitteleuropäische wissenschaftliche Landschaft, also sein wirkliches Publikum, sich in Europa befand. Obwohl er seine akademische Laufbahn in den 1970er Jahren mit der Veröffentlichung einiger Essays über Schnitzler in Fachzeitschriften angefangen hatte, und diese waren wohl mit seiner Doktorarbeit über Schnitzler und Ibsen verbunden, gelangte er bald zu dem Spezialgebiet, in dem er bekannt wurde, nämlich zu der Veröffentlichung von bisher unveröffentlichten Briefwechseln zwischen seinen Lieblingsautoren und dann darüber hinaus zwischen ihnen und seinen amerikanischen Verlegern, hauptsächlich Alfred Knopf und Ben Huebsch (Viking Verlag). Da Jeffrey Berlin die Briefe und Teile des Nachlasses von Arthur Schnitzler durch dessen Sohn Heinrich Schnitzler als Schenkung erhalten hatte, bestimmte dies in diesem Sinn die Richtung seiner zukünftigen wissenschaftlichen Arbeit. Man kann die Schwerpunkte von Jeffrey Berlins akademischen Veröffentlichungen in drei Kategorien teilen, die sich manchmal oder teilweise überschneiden: 1) das Wiener Finde-siécle, 2) Exilliteraten, die Nazideutschland oder Österreich vor und nach dem Anschluss verließen, 3) die Beziehungen zwischen amerikanischen Verlegern und ihren deutschsprachigen Autoren. Die Jahre hindurch galt sein Hauptinteresse vor allem: Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Lion Feuchtwanger, Thomas Mann, Heinrich Eduard Jakob aber auch Hugo von Hofmannsthal, Richard BeerHofmann, Hermann Bahr, Theodor Herzl, Franz Werfel, Hermann Hesse, Hermann Broch. In seinen Arbeiten war es Jeffrey Berlins Aufgabe und Ziel, eine biographische Rekonstruktion zu erstellen, 36 ZWISCHENWELT basierend meist auf bisher unveröffentlichten Briefen und manchmal auch auf unveröffentlichten Unterlagen, die er in Archiven oder Privatsammlungen entdeckte. Um an unveröffentlichte Quellen zu gelangen, tauschte er nicht selten Briefe mit Familienmitgliedern seiner Autoren, die noch am Leben waren, wie etwa mit den Töchtern von Beer Hofmann, mit Golo Mann und Elisabeth Mann Borgese, Heinrich Schnitzler, mit der Tochter von Hoffmannsthal und mit dem Sohn von Hermann Broch, der Großnichte von Felix Braun und mit Edgar Feuchtwanger u.a. Auch war er regelmäßig in Kontakt mit Archivleiter/innen und Kurator/innen in den USA, Europa, Israel, Südamerika und vielleicht auch anderswo. Jeffrey Berlins größte Leistung war wohl die Mitherausgabe der vier großen Bände der Stefan Zweig-Korrespondenz, die er zusammen mit Knut Beck (und für den ersten Band auch zusammen mit Natalia Weschenbach) fiir den S. Fischer Verlag bearbeitete. Diese Ausgabe hat eine wesentliche Rolle gespielt, eine neue Phase in der Stefan Zweig-Forschung einzuleiten. Zusätzlich hatte Jeffrey Berlin die neue Edition der Briefwechsel Friderike Zweig — Stefan Zweig zusammen mit Gert Kerschbaumer herausgegeben sowie die Briefwechsel von Albert Einstein und Zweig, oder auch die Briefe zwischen Beer-Hofmann und Zweig, mit zusätzlichen Briefen Zweigs an Ben Huebsch und an Sol Liptzin. Alle diese Veröffentlichungen haben unser Wissen und Verständnis über Stefan Zweigs Leben und Karriere vertieft. Zum Beispiel wird der Name Albert Einstein in Die Welt von Gestern nicht einmal erwähnt. Jeffrey Berlin war der erste, der Stefan Zweigs „Jüdisches Manifest“ aus den 30er Jahren entdeckte und kommentierte. Darüber hinaus muss bemerkt werden, dass die Arbeiten von Jeffrey Berlin eine überaus große Anzahl von Fußnoten und langen informationsreichen Anmerkungen enthalten, die sein umfangreiches Wissen über die kleinsten tagtäglichen Details seiner Autoren zeigen. Ihm war es wichtig, immer wieder so viel Informationen wie möglich miteinzubeziehen, damit die Literaturund Kulturwissenschaft mithilfe seiner Editionen ein vollständigeres Bild der jeweils behandelten Personen formen konnte. Manchmal enthalten seine Fußnoten Verweise auf relativ unbekannte aber wichtige Quellen, wie z.B. die Rezension von Die Welt von Gestern, die der große amerikanische Literaturwissenschaftler Lionel Trilling (Columbia University) kurz nach der Veröffentlichung in einer unbekannten amerikanisch-jüdischen Zeitschrift drucken ließ. Gleichfalls findet man gelegentlich in Jeffrey Berlins Arbeiten unbekannte Dokumente, die sicherlich von definitivem wissenschaftlichen Interesse sind, wie etwa Arthur Schnitzlers Handschrift über Urheberrecht und geistiges Eigentum. (Vgl. Jeffrey B. Berlin: Arthur Schnitzlers Unpublished Memoir Urheberrecht und geistiges Eigentum. In: Jüdische Aspekte Jung-Wiens im Kulturkontext des Fin de Siecle. Hg. Sarah Fraiman-Morris, Tübingen 2005). Ich war seit Anfang der 1980er Jahre in Kontakt mit Jeffrey Berlin und wir waren mehr als dreißig Jahre lang Kollegen und Freunde. Ich habe ihn in seinen dunkelsten Stunden und bis zum letzten Moment ermutigt, nicht aufzugeben und ihn gebeten, auch Hoffnung trotz seiner Verzweiflung und mit Hilfe seiner charakteristischen Tapferkeit aufzubringen. Ich bin dankbar, dass ich ihn während meines letzten Besuchs in den USA vor der Zeit der weltweiten Pandemie zu Hause besuchen durfte. Er war ein inspirierendes Vorbild für viele von uns und wir werden ihn vermissen. Mark H. Gelber ist Prof. em. der Ben-Gurion Universität, Beer Sheva.