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Karin Hanta Nachruf für Doris Orgel Die bekannte Kinder- und Jugendbuchautorin Doris Orgel verstarb am 4. August 2021 im Alter von 92 Jahren in Portland, Oregon, USA. Die Schriftstellerin wurde am 15. Februar 1929 in Wien geboren und konnte sich mit ihren Eltern Ernst und Erna Adelberg und ihrer Schwester Lotte nach dem „Anschluss“ 1940 in die USA retten. In den USA fand sie mit ihrem Jugendbuch „Ihe Devil in Vienna“ („Der Teufel in Wien“) 1978 den Weg in die Öffentlichkeit. Dieser autobiografische Roman wurde im Jahr 1988 unter dem Titel „A Friendship in Vienna“ vom Disney Channel verfilmt (und ist jetzt auf Youtube allgemein zugänglich). Außerdem zeichnete sie sich durch ihre Zusammenarbeit mit dem Grand Seigneur der US-amerikanischen Kinderbuchillustration Maurice Sendak (1928 - 2012) aus, mit dem sie ein von ihr verfasstes Kinderbuch („Sarah’s Room“) und mehrere von ihr aus dem Deutschen übersetzte Märchen („Dwarf Long-Nose,“ „Schoolmaster Whackwell’s Wonderful Sons“ und „Ihe Tale of Gockel, Hinkel und Gackeliah“) veröffentlichte. Im Jänner 2015 durfte ich Doris Orgel für mein Dissertationsund Buchprojekt „Zurück zur Muttersprache: Austroamerikanische SchriftstellerInnen im österreichischen literarischen Feld“ mehrere Stunden lang interviewen. Sie lud mich in ihre Wohnung auf der Upper East Side ein und servierte mir in hübschem Augarten-Porzellan Kaffee und Macarons. Die zierliche Dame mit dem schwarzen Pagenkopf und dem freundlichen Lächeln hatte sich auf meinen Besuch gefreut, bot er ihr doch Gelegenheit, Deutsch zu sprechen. In meinem Gespräch konzentrierte ich mich auf die Rolle von Sprache im Leben der Schriftstellerin. Sie erzählte mir, dass sie in einen englischsprachigen Kindergarten ging und so leicht die Sprache lernte. Eine Geschichte schrieb sie bereits vor ihrer Einschulung. Es ging um einen Jäger im Wald. Und ich hatte mir in den Kopf gesetzt, dass man nach jedem Wort einen Beistrich setzen muss. Die Geschichte sah sehr komisch aus. Im Alter von sieben Jahren dachte ich mir eine Geschichte über zwei Puppen aus, die von zu Hause weglaufen. Ich stellte mir vor, dass ich bald ein Buch zusammenhaben würde, wenn ich jeden Abend ein paar Seiten schreibe. Dann kam der Tag im März 1938, an dem sie gemeinsam mit ihren jüdischen Schulkolleg*innen in der dritten Klasse aus der Volksschule geschmissen wurde. „Das war ein fürchterlicher Tag,“ erinnerte sich Doris Orgel. „Meine geliebte Lehrerin weinte. Das hat auch nichts geholfen.“ Ihr Großvater, der bei einer Versicherung arbeitete, gehörte auch zu den Odd Fellows, einer den Freimaurern ähnlichen Vereinigung. Er wurde von der Gestapo inhaftiert und nach seiner Freilassung zu einer „Reibpartie“ gezwungen. Gemeinsam mit seiner Frau ging er aufgrund der Hilfe eines Freundes aus dem „Odd Fellows“-Verein ins schwedische Exil und übersiedelte nach dem Zweiten Weltkrieg zu Doris und ihren Eltern nach New York. Mit der Exilnahme ihrer eigenen Kleinfamilie war es zuerst schwierig bestellt. Erna Adelberg hatte sich eine Woche vor der Amtsübertragung an das NS-Regime beim Schifahren die Hüfte gebrochen. Deshalb verzögerte sich das Ansuchen um ein US-amerikanisches Visum. Entfernte Verwandte in St. Louis stellten der Familie Adelberg jedoch ein Affidavit aus, und so gelangten sie über Kroatien und Großbritannien schließlich 1940 in die USA. St. Louis stellte sich als kein freundliches Pflaster heraus. „Die beiden Zweige meiner Familie waren zerstritten. Und in der Stadt herrschte die Rassentrennung. Meine Verwandten sagten leider fürchterliche Dinge über Afroamerikaner*innen. Das schockierte uns sehr“, erinnerte sie sich. Auch stellte sich einer ihrer Verwandten vor ihr Fenster, um zu überprüfen, dass die Familie auch wirklich Englisch rede. Da ihr Vater, ein gelernter Textilfachmann, dazu angestellt wurde, niedrige Putzdienste im Geschäft ihrer Verwandten zu verrichten, entschloss sich die Familie, nach New York zu übersiedeln. Dort wohnten sie in der 103. Straße, einer Gegend auf der Upper West Side, die aufgrund ihres hohen Anteils an Exilierten auch „das Vierte Reich“ genannt wurde. Ernst Adelberg zog ein Import/Export-Geschäft auf, ihre Mutter Erna, eine Absolventin der Schwarzwald-Schule, arbeitete fortan als Masseuse. Doris Adelberg ging in die Joan of Arc-Mittelschule, wo ihre Lehrenden ihr sprachliches Talent erkannten. Einmal schrieb sie einen Aufsatz, auf den ihre Lehrerin, Mrs. Elmendorf, in Blockbuchstaben RIGHT!!! schrieb. „Das hat mir so viel bedeutet,“ erinnerte sie sich. „Und so wurde ich Schriftstellerin.“ Im Jahr 1946 erhielt Doris Orgel ein Stipendium für das gleich neben der Harvard University gelegene Radcliffe College für Frauen. Die Studiengebühren bezahlte ihr ein Verwandter aus Venezuela, und nach dem ersten Jahr erhielt sie ein Stipendium. Sie war über sich selbst erstaunt, als sie begann, auf Radcliffe Vorlesungen über deutsche Literatur zu besuchen und lernte so das Werk von Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Thomas Mann und Rainer Maria Rilke kennen. Rückblickend glaubte sie, dass sie unbewusst die Sprache ihrer Kindheit wiedererlangen wollte. Sie hatte sich ihr Deutsch erhalten, sprach mit ihrer Schwester und in der Schule jedoch Englisch. Nachdem sie sich mit dem US-amerikanisch-jiidischen Medizinstudenten Shelley Orgel verlobt hatte, wechselte sie auf das Barnard Dezember 2021 3/7