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College in New York, ebenfalls eine Frauenuniversität. Sie heirateten im Jahr 1949, und Shelley Orgel konnte sich erfolgreich als Psychiater etablieren. Der eingangs erwähnte Illustrator und Buchautor Maurice Sendak, dessen Partner Eugene Glynn wie Shelley Orgel Psychiater war, ermutigte Doris Orgel dazu, Kinderbücher zu schreiben. Er fertigte auch die Zeichnungen für Orgels erstes Buch „Sarah’s Room“ (1963) an. Sie dichtete in der Folge Märchen von Wilhelm Hauff und Clemens Brentano auf Englisch nach. Aber auch den Brüdern Grimm widmete sie sich in ihren Büchern „Ihe Bremen Town Musicians“ (2004) und „Doctor All-Knowing“ (2008), das auf dem Märchen „Doktor Allwissend“ beruht. In der Hunter High School war Doris Orgel besonders dem Latein zugewandt und gewann bei Wettbewerben mehrere Preise. Ihr Interesse an römischer und griechischer Mythologie konnte sie in ihren Büchern „Ariadne Awake“ (1994), „Ihe Princess and the God“ (1996), „We Goddesses“ (1999) und „My Mother’s Daughter — Four Goddesses Speak“ (2003) vertiefen. Auch als Übersetzerin von Jugendbüchern war sie eifrig tätig: So übersetzte sie das Jugendbuch „Daniel Halber Mensch“ (2000) [„Daniel Half Human,“ 2004] von David Chotjewitz, das beschrieb, wie verschieden sich Antisemitismus auf zwei Freunde auswirkte. Auch Mira Lobes „Die Omama im Apfelbaum“ brachte sie 1970 unter dem Titel „Ihe Grandma in the Apple Tree“ in den englischen Sprachraum. In den fünfziger Jahren wurde sie auch mit Max Frisch bekannt, der sie damals bat, seine Romane zu übersetzen. Da sie damals kleine Kinder hatte, konnte sie seiner Bitte nicht nachkommen, was ihr im Nachhinein leidtat. Zwei Freundinnen standen auch im Zentrum ihres Buches „Ihe Devil in Vienna,“ das auf autobiografischen Tatsachen beruhte. In der Volksschule hatte Doris Adelberg eine gute Freundin, deren Vater jedoch ein Nazi war. „Sie hieß Lieselotte Gamillschegg,“ erinnerte sie sich. „Uns verband eine wirklich gute Freundschaft. Ich bekomme noch immer eine Gänsehaut.“ (Eine kurze Internet-Recherche ergab, dass Lieselotte Gamillschegg im Mai 2021 in Perchtoldsdorf verstorben ist.) Für das Buch interviewte sie auch ihre Eltern über ihre „Emigrationssaga“, die sie als Kind nicht so traumatisch empfand, wie man annehmen könnte. „Ich habe damals nicht erkannt, wie gefährlich unsere Flucht eigentlich war.“ Vor ihrer Exilnahme ließen sich ihre Eltern taufen und an der unter der Kontrolle der deutschen Truppen stehenden Grenze trug ihre Mutter eine Halskette mit einem Kreuz und versuchte die Beamten milde zu stimmen, indem sie ihnen türkische Zigaretten anbot. Die Familie Adelberg gelangte ohne weitere Schikanen über die Grenze. In unserem Gespräch gab Doris Orgel an, dass ihr Lore Segals Buch „Other People’s Houses“ gefallen hatte und sie bereits darauf aufmerksam wurde, als es in Serienform ab 1962 in der Zeitschrift „New Yorker“ erschien. Es kann angenommen werden, dass es sie auch zu ihrem eigenen Erinnerungswerk „Ihe Devil in Vienna“ inspiriert hat. In ihrer Darstellung der Freundschaft zwischen den Mädchen orientierte sie sich auch an der Beziehung zu ihrer dreieinhalb Jahre älteren Schwester Charlotte Lichtblau, mit der sie sehr innig verbunden war. „Ich habe sie wirklich bewundert,“ erinnerte sich Doris Orgel nach dem Tod der Künstlerin, die in ihren Werken oft Altaussee — den bevorzugten Urlaubsort ihrer Familie — darstellte. 38 ZWISCHENWELT Lotte inspirierte sie auch dazu, Karl May zu lesen. „Winnetou“ las sie auch noch im Exil auf Deutsch. „Meine Schwester und ihre Freunde spielten oft am Nachmittag im Park Winnetou nach. Jemand war Old Shatterhand, ein anderer war Old Surehand.“ Leider durfte die kleinere Doris nicht mitspielen. Die Tatsache, dass May auch Adolf Hitlers Lieblingsautor war, minderte im Rückblick Doris Orgels kindliche Begeisterung nicht. Doris Orgel war auch darauf bedacht, ihr Wissen weiterzugeben. Im Bank Street Writers‘ Lab tauschte sie sich mit anderen Schriftsteller*innen über Kinder- und Jugendliteratur aus und verfasste in Zusammenarbeit mit ihnen Bücher für Kinder, die gerade lesen lernen. Für die „New York Times“ verfasste sie auch Rezensionen über Literatur für junge Menschen. Ihre eigenen Werke erhielten ebenfalls sehr gute Besprechungen. Die Kirkus Review bewertet ihr Werk „Ihe Devil in Vienna“ im Jahr 1978 als „authentisch“ und „scharfsinnig.“ Für dieses Buch gewann sie auch als erste Autorin 1978 den „Sydney Taylor Book Award“ der US-amerikanischen Association of Jewish Libraries (Verband jüdischer Bibliotheken). Die Tatsache, dass sie 1960 den „Lewis Carroll Shelf Award“ für ihre Übersetzung und Nachdichtung von Zwerg Nase erhielt, zeigt an, dass sie sich erfolgreich im US-amerikanischen literarischen Feld etablieren konnte. In der Tageszeitung „Der Standard“ beschrieb Sandy Lang „Der Teufel in Wien“ als „eine feingesponnene Ich-Erzählung eines mit Wiener Teufelssagen heranwachsenden Mädchens.“ Sie geht darin auf die tiefe Erfahrung der Autorin mit Ausgrenzung ein. Die Rezensentin bemerkt, dass Doris Orgel im US-amerikanischen Sprachraum zunächst mit Übersetzungen deutscher Märchen ins Englische bekannt wurde, dass sich diese jedoch nicht mehr zutraue, ins Deutsche zu übersetzen, denn dafür fehlten ihr die Worte. Das übersetzte Werk wirke gerade eben so, als ob man ihr „die eigene Sprache zurückgegeben hätte“. Mit dem offiziellen Österreich verband Doris Orgel lediglich der Kontakt zur Österreichischen Exilbibliothek, die sie 1997 zu Lesungen einlud. Ihre Lebensgeschichte war Teil von Egon Humers Dokumentation „Emigration, N.Y.“ aus dem Jahr 1996. Mit ihrem Mann Shelley Orgel führte Doris Orgel über 70 Jahre eine sehr gute Ehe. „It gets better every time“, meinte sie in unserem Gespräch über ihren Ehemann, den sie als sehr verständnisvoll bezeichnete. Doris Orgel hegte ein tiefes Interesse an Psychoanalyse, das sie auch mit ihrer Mutter teilte. Aufgrund ihrer Einfühlsamkeit konnte sie sich in ihren Büchern auch Themen wie der Scheidung der Eltern, dem Tod eines Haustieres und der aufkeimenden Sexualität widmen. Ihren Kindern zufolge hatte Doris Orgel viele Hobbys: Schwimmen, Tennis, Reisen, Kochen, Konzert- und besonders Opernbesuche. Ihr Sohn Paul wurde Pianist und unterrichtet heute an der Universität von Vermont Musik. Doris Orgels Mann Shelley verstarb bereits im Jahr 2018. Das Ehepaar hinterlässt eine Tochter, Laura, die Söhne, Paul und Jeremy sowie zehn Enkelkinder und vier Urenkel. Von Karin Hanta ist zuletzt die große Studie „Zurück zur Muttersprache. Austro-amerikanische SchriftstellerInnen im österreichischen literarischen Feld“ bei Mandelbaum in Wien erschienen.