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Neue Texte Mischi Steinbrück Den älteren Generationen Westeuropas ist der Name „Bouboulina“ noch aus dem berühmten „Alexis Zorbas“, dem Roman Kazantzakis in der Verfilmung von Michael Cacoyannis, mit Anthony Quinn in der Hauptrolle, in Erinnerung. Sie war dort eine rührende, aber auch lächerliche, alternde Dorfkokotte. Man wusste nicht, dass Zorbas sie mit diesem Spitznamen neckte, weil sie sich gern mit ihren verflossenen Beziehungen zu Generalen und Admiralen irgendwelcher Flotten brüstete. In Griechenland dagegen ist die Bouboulina berühmt als Kapitänin, die im März 1821 von ihrer Heimatinsel Spetses aufbrach, um als Befehlshaberin über acht Schiffe die Festung Nafplion zu befreien. Das Gebiet des heutigen Griechenland war damals bereits seit mehr als 300 Jahren von den Osmanen beherrscht. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts nahmen die früheren Scharmützel gegen diese Fremdherrschaft den Charakter von ernst zu nehmenden Freiheitskämpfen an. In mehreren Gebieten schlossen sich unterschiedlichste Gruppen von Kämpfern zusammen. Sie waren nicht miteinander verbunden und agierten entsprechend den jeweiligen regionalen Besonderheiten. In Mittelgriechenland waren es eher Banden, die einmal mit den Osmanen paktierten und die Bauern in Schach hielten, dann wieder mit den Bauern gegen die Osmanen hielten. Hauptsächlich waren es wohl Bergbewohner, auch Räuber, im Griechischen „Kleften“ genannt, die stolz auf ihre Unabhängigkeit von der Mühsal des Ackerbaus, sich nach und nach zu Freiheitskämpfern entwickelten. Sie wurden in Liedern, den „Kleftika“ besungen, in denen ihr Mut, ihre Waghalsigkeit, ihre Unbeugsamkeit, ihre Loyalität zur Bande, aber auch ihre Grausamkeit und ihr Heldentod gerühmt wurden. Auf den Inseln der Ägäis hingegen entwickelte sich der Widerstand in der Schicht der überaus reichen Handelsherren und Reeder. Sie waren mit den Verhältnissen, den wirtschaftlichen, den politischen, den religiösen und den diplomatischen der Hohen Pforte gut vertraut. Gleichzeitig hatten sie weitreichende Verbindungen nach Europa, nach England, nach Frankreich, nach Italien und nach Österreich. Innerhalb ihrer Kreise gründeten sie die „Filiki Etaireia“, die griechische Geheimgesellschaft, in der die Idee zu einem künftigen griechischen Staat entwickelt wurde; einem freien, unabhängigen Staat mit einer Verfassung nach dem Vorbild der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der französischen Verfassung, mit einer Legislative und einer Exekutive. Es gibt ein schr angenehm zu lesendes Buch von Ioannis Zelepos, „Kleine Geschichte Griechenlands — Von der Staatsgründung bis heute“ (Verlag C.H. Beck), in dem all die Beweggründe, Voraussetzungen und Methoden der unterschiedlichen, in mehreren Regionen gleichzeitig ausbrechenden Befreiungserhebungen beschrieben sind. Sehr informativ und fast ein Lehrstück, um Revolten und Revolutionen und deren Entwicklung in einem lange fremdbeherrschten und zusätzlich geografisch zerklüfteten Land zu verstehen. Es waren u.a. diese unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen, die eine wichtige Rolle in den späteren Zerwürfnissen spielten, deren Opfer auch die Kapitäninnen wurden. Was aber bei Zelepos, wie auch in vielen anderen Geschichtsbüchern, mit Ausnahme vielleicht in regionalen Geschichtserzählungen, fehlt, sind die Frauen. Der Part der Frauen kommt nicht vor. Und das ist verwunderlich bei der sonstigen Differenziertheit seiner Darstellungen — und vor allem bei der Bedeutung, die die Frauen in diesen Kämpfen erlangten. Der Ruf dieser mutigen, kämpfenden Frauen reichte damals bis Europa. Die berühmtesten von ihnen wurden von französischen Malern portraitiert. Der deutsche Dichter Wilhelm Müller, der „Kleftika“ übersetzte, nachdichtete und eigene „Neue Griechische Lieder“ 1823 bei Brockhaus in Leipzig mit großem Erfolg herausbrachte, ließ in einem Gedicht eine „Souliotin“ von ihrem Kampfbegehren sprechen und es mit größter Dringlichkeit begründen. Es ist zu vermuten, dass die Nachrichten über diese Frauen das damalige Frauenbild in Europa entscheidend beeinflussten. Eine ansehnliche Liste mit Namen der bekanntesten Kämpferinnen und Anführerinnen beweist, dass es ihrer viele in Souli gab. Eines der Kleftenlieder besingt eine „Tsavelena“ von dort, die sogar „mit ihrem Kind auf dem Arm“ an der Spitze eines Angriffs den anderen voranrannte. Andere Kämpferinnen kamen von Kreta, andere von Konstantinopel, es gab sie überall. Ich habe mich mit meinem szenisch-lyrischen Biithnenprogramm „Kapitäninnen der Freiheit“ der drei bekanntesten dieser selbstbestimmten Unabhängigkeitskämpferinnen angenommen. Das Wenige, das ich in Griechisch-Wikipedia über sie lesen konnte, hat mich so begeistert, dass ich daraus literarische Portraits schuf, die durch ihre sprachliche Rhythmik der Dramatik der Lebensläufe dieser drei Frauen gerecht zu werden versuchen. Es beginnt mit der schon erwähnten Laskarina Bouboulina (1717 — 1825), einer zweifachen Witwe, Mutter von sieben Kindern, Reederin von Spetses und einem der wenigen weiblichen Mitglieder der „Filiki Etaireia“. Sie brachte durch eigene Aktivitäten die Mittel für acht Schiffe, eines davon das modern ausgestattete Kriegsschiff „Agamemnon“, für Kanonen, Bewaffnung und Besoldung von dreihundert Männern auf. Sie legte in Absprache mit dem Patriarchen von Konstantinopel den Tag des ersten Angriffs im März des Jahres 1821 fest. Sie belagerte die Festung von Nafplion, kämpfte auch an Land Dezember 2021 39